Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
den Kindern ins Krankenrevier. Ein unfassbares Glück.
Zehn Tage blieben sie dort. Es gab regelmäßige Mahlzeiten, und sie kamen langsam wieder zu Kräften. Sie erfuhr, dass viele der Ärzte und Krankenschwestern ebenfalls Verbannte waren, und freundete sich mit Olga, einer der Schwestern, an. Olga war es auch, die ihr einen Tag vor der Entlassung sagte: »Ich habe das geregelt, du kannst hier in der Wäscherei arbeiten.«
Galina fiel ihr um den Hals. Im Krankenhaus zu arbeiten hieß, Essen für sie und die Kinder. Die Kinder! Wo sollten die Kinder hin, wenn sie arbeitete? Olga schob ihr einen kleinen Zettel mit einer Adresse zu. »Du kannst bei Lydia unterkommen. Sprich mit ihr. Für ein paar Kopeken kümmert sie sich sicher um die Kinder.«
Die kleine Siedlung, bestehend aus zwanzig Holzhütten, lag außerhalb der Stadt, gut eine Stunde Fußweg vom Krankenrevier entfernt. Als sie mit den Kindern die Stadt verließ, wehte ein heißer Wind über die öde Steppe. Nie hatte sie derart karges Land gesehen. Am Ende der Welt, dachte sie, jetzt bin ich am Ende der Welt.
Lydia war Ukrainerin, die als Lehrerin gearbeitet hatte und seit zwölf Jahren in Verbannung lebte. Ihr Heimatdorf war ausgelöscht worden, weil sich die Bewohner geweigert hatten, das wenige Getreide, das sie noch besaßen und brauchten, um über den Winter zu kommen, an die staatlichen Eintreiber abzugeben.
»Niedergebrannt«, sagte sie, »und die, die nicht schon vorher erschossen oder in den Flammen umgekommen waren, zum Bahnhof getrieben und auf Viehwagen geladen.« Aber davon sprach Lydia erst sehr viel später.
Sie war eine kleine, gebrechliche Frau um die vierzig. Sie sprach leise, und ihr Kopf mit den kurzen grauen Haaren wackelte ständig in einer Geste zwischen Nicken und Verneinen, ein Tick, der ihrer Erscheinung etwas Verwirrtes, etwas Haltloses gab. Sie stellte Puppen aus kleinen Stoff- und Fellabfällen her, die sie sich in Schneidereien, Gerbereien und einer Textilfabrik erbettelte. Mit einem Handwagen, auf dem sie ihre kleinen Kunstwerke drapierte, zog sie täglich in die Stadt und versuchte sie zu verkaufen.
Lydia verhandelte zäh, aber sie wurden sich einig. Galina bezog mit ihren Kindern das Hinterzimmer in dem winzigen, zugigen Holzhaus. Zwei Betten standen darin. Der andere Raum, der auch als Küche diente, wurde von Lydia bewohnt, die sich von nun an von morgens um sechs bis abends gegen sieben um Pawel und Ossip kümmerte, während Galina in der Wäscherei arbeitete.
Lydia band sich allmorgendlich ihr Kopftuch um, setzte die Kinder in den Handwagen, stopfte die Puppen dazu und zog los. Meistens fand man sie am Bahnhof, wo sie versuchte, Reisende zu überreden, ihren Kindern oder Enkelkindern ein hübsches Püppchen mitzubringen. Ossip auf dem Arm und den spielenden Pawel auf dem Bahnhofsplatz stets im Blick, saß sie stundenlang neben ihrem Karren. Abends brachte Galina Essensreste aus der Kantine mit nach Hause, und es reichte immer auch für Lydia.
Die Arbeit in der Wäscherei war hart. Sechs Tage die Woche, zehn Stunden am Tag. An den Waschkesseln war es heiß und feucht, die Chlordämpfe fraßen an den Schleimhäuten, die Hände waren bald rauh und rot, und auch Galina bekam wie ihre Kolleginnen offene Stellen an Händen und Armen, die nicht heilen wollten. Sie waren alle froh, wenn sie dazu eingeteilt wurden, die Wäsche in großen Körben über das Gelände in die zwei Minuten entfernte Trockenhalle zu tragen, wo sie der feuchten Hitze entkamen. Hier steckten sie Bettbezüge, Kittel und Laken zwischen zwei Holzwalzen und holten, mit ganzem Körpereinsatz eine Kurbel drehend, die Feuchtigkeit aus den Wäschestücken. Dann hängten sie die Laken auf die Leinen, die sich durch die ganze Halle zogen. Hinter der Halle lag der Bügelraum. Das waren die begehrtesten Arbeitsplätze, an die man nur herankam, wenn man keinen Verbannungsstempel in den Papieren hatte.
Olga sagte: »Als Verbannte hast du nur eine Chance, wenn du dem Chef der Krankenhausverwaltung gefällig bist. Du bist hübsch und kannst sicher diesen Weg gehen, aber überleg es dir gut. Deine Kolleginnen in der Wäscherei werden dich das spüren lassen.«
Der Winter kam ohne Vorbote bereits im September. Über die Steppe, die Karaganda wie ein endloses gelbbraunes Meer umgab, in dem nichts wuchs als niedriges zähes Gesträuch, hatte ein stetiger warmer Wind geweht, der von einem Tag auf den anderen Kälte brachte.
Schon in der Nacht hatte sie im Bett
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