Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
Dreißig Männer. Jeder hatte gerade so viel Platz, dass er mit angezogenen Beinen sitzen konnte. In der hinteren Ecke war ein Loch von zwanzig Zentimetern Durchmesser in den Boden gesägt. Die Toilette. Die Kräftigsten sicherten sich die Plätze vorne, wo Wasser und Brot als Erstes ankamen, und dort, wo es in den Wänden Ritzen gab, die Luft und einen Streifen Tageslicht hereinließen. Die Schwächsten saßen am kotverschmierten Loch. Der Zug fuhr nachts, stand tagsüber auf Abstellgleisen. Es war stickig, und die Essensrationen aus gesalzenem Fisch und Brot hinterließen einen quälenden Durst. Das Wasser war rar, und einige Male bekamen sie im hinteren Teil des Waggons nichts ab. Sie lagen Körper an Körper, und wenn sie schliefen, konnten sie sich nur reihenweise umdrehen. Dem Alten, den sie ebenfalls ans Loch gedrängt hatten, verdankte Ilja sein Überleben. Fjodor Jewgenjewitsch Gerschow. Er war Dozent für Literatur gewesen. »Die falschen Gedichte«, hatte er gleich zu Anfang gesagt, »ich verehre die falschen Dichter.«
Sie sprachen flüsternd über Musik und Literatur, und für Ilja war es, nach all dem Alleinsein, wie ein Geschenk. Gerschow erzählte auf wunderbare Weise die Romane und Dramen großer Dichter nach, weinte gar, wenn einer seiner Helden starb, oder er rezitierte berührende Gedichte. Mit geschlossenen Augen hörte Ilja ihm zu und entkam für kurze Zeit dem Durst, dem Hunger, den Schmerzen in den Beinen und dem Gestank, der immer deutlicher auch eine süßliche Komponente hatte. Gerschow, dachte er, wenn Menschen wie Gerschow mit dabei waren, konnte er es vielleicht schaffen.
Sie waren mehrere Nächte gefahren, als die Waggontüren sich öffneten und sie den Wagen verlassen durften. Mit schmerzenden Gliedern torkelten sie heraus auf ein offenes, unbestelltes Feld. Im Osten zeigte sich das erste Tageslicht, lag blassrosa im Gezweig des angrenzenden Birkenwaldes. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten, massierte seine Waden und Oberschenkel, saugte die frische Morgenluft gierig in seine Lunge. Der Sauerstoff belebte ihn. Zum ersten Mal sah er die lange Reihe der Waggons, schätzte, dass mindestens zweihundert Männer auf dem Feld standen.
Er blickte sich nach Gerschow um, konnte ihn aber nicht entdecken. An den Waggontüren weiter hinten sah er Wachleute. Sie trieben Gefangene an, die damit beschäftigt waren, Männer aus den Wagen zu ziehen. Ohne zu begreifen, was dort geschah, wankte er zurück, rief nach Gerschow. Er sah, wie Schaufeln, Pickel und Spaten an die Gefangenen verteilt wurden, meinte, sie seien endlich angekommen. Hier also lag irgendwo das Lager, hier würden sie arbeiten. Er stieg zurück in den Waggon, rief erneut nach Gerschow. Drei Männer lagen im Wageninnern, hinten am Loch sah er den Freund. »Kommen Sie, Fjodor Jewgenjewitsch, ich helfe Ihnen.«
Der Alte schüttelte den Kopf. »Meine Beine«, flüsterte er. »Sie wollen mich nicht tragen.«
Ilja griff Gerschows Arme, schleifte ihn über den Waggonboden zum Ausgang. Der Alte stöhnte vor Schmerzen.
»Das geht vorbei«, versuchte Ilja ihn zu beruhigen, »erst mal müssen Sie hier raus.«
Er sprang von der Ladefläche und versuchte Gerschow herauszuziehen, als plötzlich ein Wachmann hinter ihm stand, ihn am Kragen packte und wegstieß. »Graben«, brüllte er, »ihr sollt graben.«
Erst jetzt begriff Ilja. Erst jetzt begriff er, dass die Männer, die vor den Waggons lagen, tot waren. Erst jetzt ordnete er den süßlichen Geruch ein, verstand, warum Schaufeln und Spaten verteilt wurden.
»Er lebt«, schrie er, »Gerschow lebt. Seine Beine … er muss nur …«
Er sah es. Er verstand nicht, was er sah.
Der Mann nahm seine Pistole aus dem Holster und entsicherte sie. Der Schuss dröhnte über das flache Land, irrte über das Feld, über die Wipfel des Birkenwaldes, als suche er immer noch nach einem Ziel. Gerschows Kopf baumelte von der Ladefläche.
Die Stille danach.
Die Männer auf dem Feld unbeweglich mit ihren Spaten und Schaufeln. Das blasse Rosa am Horizont jetzt rot. Blutrot.
Der Kopf baumelte an der erschlafften Nackenmuskulatur sacht hin und her. Gerschows letztes Unbegreifen.
Der Wachmann steckte die Waffe zurück und blaffte: »Los, zieh ihn raus und leg ihn zu den anderen.«
Hatte er Gerschow von der Ladefläche gezogen? Hatte er ihn zu den anderen gelegt? Schon am Nachmittag wusste er es nicht mehr. Schon am Nachmittag war in ihm endgültig etwas zerrissen. Fein wie der Faden einer
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