Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
gefroren und die Kinder zusätzlich mit ihrem Mantel zugedeckt. Am Morgen stand Lydia in der Küche und kochte Tee. »Wir brauchen mehr Holz und die Kinder Mäntel und Schuhe«, sagte sie leise, »der Winter ist früh. Wenn er so früh kommt, wird er lang und hart. Schwere Zeiten stehen an«, prophezeite sie flüsternd und wärmte sich die Hände an der Teekanne.
Kapitel 10
S ascha wachte um 6.30 Uhr auf, nach nur drei Stunden unruhigem Schlaf, voll bekleidet und inmitten der Schriftstücke und Fotos. Orientierungslos sah er sich um und brauchte mehrere Sekunden, ehe er begriff. Eine kalte Dusche brachte ihn ins Leben zurück. Er zog ein frisches T-Shirt an und bestellte telefonisch ein Frühstück.
»Das tut mir leid, aber wir haben keine Küche«, hörte er eine freundliche Stimme. »Frühstücken müssen Sie nebenan in der Raststätte.«
Bevor er die Unterlagen auf seinem Bett wieder in die Nylontasche packte, nahm er das schmuddelige, braune Papier, die alten Zeitungsausschnitte und die zwei kopierten Seiten, die dem Brief des Rechtsanwalts an Vika beigelegen hatten, und legte sie zuoberst in die Mappe.
An vielen Tischen in der Raststätte standen abgegessene Frühstückstabletts von Fernfahrern, die es eilig gehabt hatten. Nur einige wenige Männer – vermutlich Handelsvertreter – saßen noch mit einer Zeitung da und ließen sich Zeit. Er bestellte Milchkaffee, nahm sich Rührei und ein Käsebrötchen und setzte sich an einen Ecktisch.
Während er aß, musterte er gewohnheitsgemäß jeden, der die Raststätte betrat. Ein Pärchen, beide mit blondierten Haaren. Sie hatten es eilig, bestellten Kaffee zum Mitnehmen. Eine junge Frau mit einem Kind, die zielstrebig den Toilettenhinweisen folgte. Ein älterer Mann kaufte Zigaretten und Mineralwasser.
Er schob das Tablett zur Seite und zog die Mappe hervor. Zunächst nahm er sich das wohl Hunderte Male auseinander- und wieder zusammengefaltete, mit alten Knicken übersäte Papier vor. Vorsichtig strich er es glatt, fürchtete, dass es unter seinen Händen zerbröseln würde. Es war ein Dosenetikett, schmaler als ein DIN-A4-Blatt, aber etwas länger. In kyrillischen, schwarzen Lettern war »Bohnen« zu lesen. Darunter konnte er »Fabr…« und »…chard« entziffern. Die anderen Angaben waren im Laufe der Jahre verwischt und unleserlich geworden.
Woher hatte Vika das, und was wollte sie damit?
Er nahm eine der beiden Kopien in die Hand. Darauf war eine winzige, kaum leserliche kyrillische Handschrift zu sehen. Am oberen Rand hatte Vika notiert: 24. 04. 2008, Kopie des Dosenetiketts. Sascha nahm das morsche Etikett und drehte es um. Die ganze Rückseite war eng und akribisch beschrieben, kein Millimeter Platz war verschenkt.
»Geliebte Galina«, konnte er entziffern, und er spürte, wie sein Magen sich zusammenzog. Babuschka! Baba Galina.
Er nahm dass Ringbuch mit den Fotos aus der Tasche. Einige der Bilder waren herausgerissen, lagen lose zwischen den Seiten. Er fuhr mit der Hand über die Stellen, an denen sie geklebt hatten. Hier und da hatte sich ein Papierrest nicht abgelöst.
Daher also kamen die Zeitungsartikel und das Etikett. Seine Mutter hatte sie unter den Fotos versteckt.
Er nahm die Kopie zur Hand und begann zu lesen. Vika hatte die unkenntlichen Worte und Buchstaben sinngemäß auf der Kopie ergänzt.
Januar 1949
Geliebte Galina,
ich schreibe dir aus Workuta. Hier ist der Winter von einer allumfassenden Kälte und dröhnenden Stille, die mich abends beten lässt, der nächste Tag möge so fern sein, dass ich ihn nicht mehr erleben muss.
Geliebte, mein Herz will ohne dich und die Kinder nicht mehr schlagen, flattert beschämt in meiner Brust. Ohne den Brigadier Juri Schermenko hätte ich wohl schon die vergangenen sechs Monate nicht überlebt, aber jetzt ist etwas geschehen, das meinen Lebenswillen besiegt hat. Ich habe durchgehalten, voller Hoffnung, mein Schicksal könne sich noch ändern, voller Zuversicht, ich könne einmal wieder die Geige spielen. Aber jetzt sind mir zwei Finger der linken Hand erfroren und mit ihnen alle Musik in mir. Kein Ton ist mir geblieben, nur diese dumpfe Schneestille. Über neunzehn Jahre Arbeitslager liegen noch vor mir, und mir fehlt der Mut für den nächsten Tag. Ich werde nie wieder Geige spielen, Galina, und ich werde dich und die Kinder nie mehr sehen. Es schmerzt, das sagen zu müssen, aber du würdest mich nicht wiedererkennen. Das Leben hier hat aus mir einen anderen gemacht. Wir existieren
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