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Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Geiger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechtild Borrmann
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wir noch einiges zu tun.« Dann wurde er freundlicher. »Bitte seien Sie so nett und bringen uns Tee und Kaffee.«
    Sie saßen zwei Stunden beisammen. Sascha legte Vikas Unterlagen vor, erzählte von dem Brief seines Großvaters und von der verschwundenen Stradivari, um die sich seiner Meinung nach alles drehte. Er erzählte von Vika und seinen Eltern.
    Reger wurde hellhörig, als Sascha von dem Unfall sprach.
    »Wann war das?«, unterbrach er ihn.
    »Am 21. November 1990. Wir waren erst seit einem halben Jahr in Deutschland, und Vater hatte für das neue Jahr in Espelkamp eine Anstellung als Maurer gefunden. An jenem Morgen wollten wir uns eine Wohnung ansehen, er hatte von einem Bekannten das Auto geliehen.«
    Sascha hatte diesen Morgen in lebhafter Erinnerung. Seine Mutter weckte ihn sehr früh, und während sie Butterbrote und eine Thermoskanne Kaffee in einer Tasche verstaute, summte sie leise vor sich hin. Sie bestand darauf, dass er und Vika sich warm einpackten, und der Vater lachte und sagte: »Das Auto hat eine Heizung, Maria. Die beiden werden einen Hitzschlag bekommen.« Auf der Fahrt aßen sie die Butterbrote, und der Geruch von Wurst und frischem Brot vermischte sich mit dem Kaffeeduft.
    Reger wartete.
    »Rauhreif«, sagte Sascha. »So habe ich es später in den Akten gelesen. Wahrscheinlich war auch ein entgegenkommendes Fahrzeug involviert. Vater war viel zu schnell. Der Wagen geriet ins Rutschen und kam von der Fahrbahn ab.«
    Reger schwieg lange, zog das Anschreiben des Anwaltes vom September 1990 heran und studierte das Antwortschreiben des russischen Ministeriums.
    »Das wäre ein merkwürdiger Zufall«, sagte er dann und fuhr sich mit der Hand über seinen kahlen Kopf.
    »Mein Kontakt in Almaty hat sich nach Ihrem Onkel erkundigt. Er ist ebenfalls verunglückt. Ein Betriebsunfall. Er ist von einem Baugerüst gestürzt. Am 25. November 1990.«
    Sascha ließ sich in den Korbsessel zurückfallen und blickte ins Tal. Auf dem Rhein tuckerte ein Ausflugsdampfer gemächlich gegen den Strom. Menschen, die von hier aus nur als kleine Farbtupfer zu erkennen waren, standen auf dem Deck. Er hörte das Klopfen eines Spechts. Ganz nah. Und er dachte an den Alptraum seiner Kindheit, den er in der letzten Nacht wieder geträumt hatte. Die Lichter, die immer näher kamen. Das Rosa des Himmels. Aber in seinen Träumen kamen die Lichter, die ihn aus der Umlaufbahn geschleudert hatten, nicht aus der Gegenrichtung. In seinen Träumen sah er sie im Heckfenster. Vielleicht war es tatsächlich so gewesen.
    Die Sonne stand hoch, ein fast weißer Ball an einem milchig blauen Himmel. Alles schien innezuhalten, um noch einmal zurückzuschauen.
    Die Monate nach dem Unglück, in denen er gehofft hatte, Onkel Pawel würde ihn und Vika zurückholen. Die Jahre danach, in denen er den Onkel verwünschte und verfluchte, weil er ihn und Vika im Stich gelassen hatte. Davon war er all die Jahre ausgegangen. Sein Onkel Pawel, der beim Abschied geweint und ihm zugeflüstert hatte: »Wenn es dir in Deutschland nicht gefällt, kommst du einfach zurück.« Onkel Pawel, den er verantwortlich gemacht hatte für sein Unglück und seine Einsamkeit, war genauso lange tot wie seine Eltern.
    In den letzten Jahren, ganz besonders seit er für Reger arbeitete, hatte er manchmal darüber nachgedacht, nach Vika oder dem Onkel zu suchen. Aber da war immer diese unbestimmte Angst gewesen. Diese Angst, die Schwester könne nicht das gute Leben führen, das er sich zurechtgelegt hatte. Die Angst, von dem Onkel noch einmal enttäuscht zu werden und wieder diese kindliche Verlassenheit zu spüren, die er so fürchtete.
    Er sprang aus seinem Korbsessel auf, lief auf der Terrasse hin und her.
    »Meine Großmutter Galina? Tante Alja? Hat er auch über sie etwas erfahren?«
    Reger nahm einen kleinen Notizblock aus der Brusttasche seines Jacketts.
    »Galina Petrowna Grenko ist 1992 im Alter von dreiundsiebzig Jahren verstorben. Die Witwe Alja Grenko hat 1998 wieder geheiratet und lebt in Almaty. Sie ist Angestellte in einem Pharmaunternehmen.«
    Sascha blieb stehen, beugte sich vor und stützte sich auf den Tisch. »Ich muss mit ihr sprechen. Ich muss nach Almaty.«
    Reger atmete schwer. »Hören Sie, Grenko, bis eben war ich auch dieser Meinung, aber jetzt …«, er klopfte auf das Schreiben des russischen Ministeriums. »Die Sache scheint mir um einige Nummern größer, als ich dachte.«
    Sascha schüttelte entschieden den Kopf. »Ich muss es wissen. Ich

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