Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
Abreise nach Deutschland aufgenommen worden war. Er selbst und Vika im Vordergrund. Dahinter sein Vater und Djadja Pawel, Tjotja Alja, seine Mutter und Baba Galina in ihrem Stuhl.
Er strich über das Bild, und erst jetzt wurde ihm richtig bewusst, dass sie alle, bis auf Tjotja Alja und ihn, tot waren. Er schluckte mühsam. Und wie schon in seiner Kindheit legte sich ein unaussprechlicher Zorn über die Trauer. Er steckte alle Unterlagen in die Nylontasche, ging auf sein Zimmer, entschloss sich dann aber, einen Spaziergang zu machen. Er brauchte Bewegung, um seiner Wut Herr zu werden. Er war schon auf dem Flur, als er sich entschied, noch einmal zurückzugehen und die Tasche mitzunehmen.
Kapitel 14
W ohin die Reise ging, wusste niemand. Unter den Gefangenen wurden Namen gehandelt. Magadan, Norilsk, Jakutsk, Taischet, Workuta. Ilja beschäftigte sich nicht mit dem Ziel, für ihn klangen alle diese Namen gleichermaßen fremd.
Eines Morgens hielt der Zug an einem Bahnhof. Die Waggontüren öffneten sich, und sie wurden hinausgetrieben. Vom Zug bis zum Bahnhofsgebäude bildeten Wachleute ein Spalier. Einige führten Hunde mit sich, die an ihren Leinen zerrten und wild kläfften. Über dem Bahnhofsgebäude war in großen Buchstaben »Workuta« zu lesen. Ilja versuchte sich zu erinnern, was er während der Fahrt über Workuta aufgeschnappt hatte. Kohlebergbau. Kälte. »Neun Monate Winter«, hatte einer gesagt. Aber jetzt war Juni. Oder Juli? Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
Sie mussten sich in Fünferreihen aufstellen. Neben dem Bahnhofsgebäude stand ein Tisch, ein Offizier las Nummern und Namen vor, machte Haken auf seinem Papier. Als Ilja am Tisch stand, hörte er, wie der Offizier den Verantwortlichen des Transports, es war jener, der Gerschow erschossen hatte, rügte. »Zweihundertfünfzig waren zugesagt, und jetzt sind es nur noch zweihundertzwei. Wieso so viele Verluste? Ich muss das melden.«
Der Mann trat von einem Fuß auf den anderen, gab sich beflissen. »Aber das ist doch nicht unsere Schuld. Wir können es nicht verhindern, wenn sich das Pack in den Wagen gegenseitig umbringt.«
Noch vor wenigen Wochen hätte Ilja diese Lüge empört. Noch vor wenigen Wochen hätte er lautstark widersprochen. Jetzt hörte er gleichgültig zu und dachte: Achtundvierzig.
Sie wurden auf offene Lastwagen verladen und fuhren durch eine Stadt, der man ansah, dass sie nicht gewachsen war, sondern hingeworfen. Ilja dachte an unbegabte Musiker, die Notenblätter herunterspielten, ohne zu begreifen, dass die Musik zwischen den Tönen wuchs, dass es die Zeit war, die den Klang machte. Es gab durchaus prunkvolle Häuser, aber auch sie wirkten, als wären sie ohne Fundament.
In den Straßen gingen nur wenige Menschen. Einige hoben den Blick, sahen den Wagen mit der verwahrlosten Menschenfracht teilnahmslos hinterher. Müde wirkten sie, so als seien sie auf dem Weg in bewohnbare Gebiete verlorengegangen.
Sie holperten gut eine halbe Stunde über matschige, ausgefahrene Wege durch die Tundra. In der nackten braunen Weite lagen große Gras- und Moosflächen, die wie zum Trotz kleine gelbe und weiße Blüten trugen. In der Ferne kam ein Gelände mit Wachtürmen, Baracken und Stacheldrahtzäunen in Sicht.
Sie fuhren durch das Tor. Wieder in Fünferreihen stellten sie sich auf einen Platz. Später lernte Ilja, dass er »Appellplatz« hieß. Später lernte er ihn hassen.
Wieder wurden ihre Namen aufgerufen. Sie bekamen neue Nummern. Ilja war von nun an Nummer 4801, und in seiner Erschöpfung dachte er so unsinnige Dinge wie: Achtundvierzig Tote auf dem Transport. Achtundvierzig und eins. Warum bekomme ich diese Nummer?
Sie wurden ins Badehaus geführt, eine dürftige Baracke, in der mehrere Eimer Wasser standen. »Ausziehen und waschen«, brüllte einer der Aufseher. Anschließend wurden ihnen wieder die Köpfe geschoren, und ein Arzt teilte sie in Arbeitskategorien ein. »Nummer 4801, Kategorie 1«, sagte er, und einer der Aufseher schrieb eifrig mit. Ilja war abgemagert, aber groß und jung, und damit war besiegelt, dass er von nun an unter Tage arbeiten würde.
Der Häftling im Magazin war ein Mann mit einer gut zehn Zentimeter langen Narbe auf der Wange, die seinen linken Mundwinkel anhob und ihn immerfort schief grinsen ließ. Die Hemdsärmel waren aufgerollt, seine Unterarme tätowiert. Er reichte Fußlappen und eine Decke über den Tresen. Ilja steckte die Lappen in die Hosentasche, und der Mann beugte sich vor und
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