Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
Kindern fortgewollt. Er hatte sie nicht verlassen wollen. Aber der Antrag war ein Fehler gewesen, und als er das verstanden hatte, hatte er sofort fliehen müssen. Und noch ein Gedanke nahm Gestalt an. Wenn er aus dem Ausland Kontakt aufnehmen wollte und sie nicht zu erreichen war, dann würde er sich an Meschenow wenden.
Sie sprach mit Olga. Die Freundin schüttelte den Kopf. »Sie machen Stichproben. Wenn der Brief geöffnet wird, holen sie dich und diesen Meschenow wahrscheinlich auch.«
Mitte Dezember, der Husten schmerzte rauh in der Lunge und schwächte sie immer mehr, kam Olga in der Mittagspause in die Kantine. Einer der Ärzte, ein freier Bürger, würde über Weihnachten nach Moskau reisen und war bereit, einen Brief an Meschenow mitzunehmen.
Galina ging abends ins Krankenrevier, bat Olga um Papier und Stift. Inzwischen war sie davon überzeugt, dass Ilja mit Meschenow in Kontakt stand. Es konnte nicht anders sein. Sie wollte nichts über ihre Lebensbedingungen schreiben, wollte nicht, dass es wie ein Bettelbrief klang. Ob er von Ilja gehört habe, fragte sie an, ob Meschenow wisse, wo er sei und wie es ihm gehe. Sie bat ihn, Ilja mitzuteilen, dass sie nach Karaganda verbannt worden sei. Und dann schrieb sie doch von der Kälte und der Sorge um die Kinder. Sie hatte den Brief bereits in das Kuvert gesteckt, als sie ihn noch einmal hervornahm. Mit zittriger Hand schrieb sie: »Es tut mir weh, darum zu bitten, aber ich wäre sehr dankbar, wenn Sie uns etwas Geld schicken könnten.« Als sie ihn zuklebte, spürte sie die Hitze der Scham im Gesicht und meinte, den letzten Rest Stolz verloren zu haben.
Wenige Tage später, der Husten war ihr ständiger Begleiter und brannte wie Feuer in der Lunge, bekam sie hohes Fieber. Sie verließ das Haus wie jeden Morgen, kam aber nur wenige Meter weit, bevor sie zusammenbrach. Lydia füllte vor der Tür eine Schüssel mit Schnee, um ihn zu Teewasser zu schmelzen – die Pumpe auf dem Siedlungsplatz war lange zugefroren –, als sie Galina fand.
Fieberträume. Sie ist auf der Bühne. Tosender Applaus. Ein Scheinwerfer, der sie blendet, und als sie sich verbeugt, sieht sie unter dem gleißenden Licht Ilja im Publikum, wie er sich abwendet und geht. Sie ruft nach ihm, will ihm hinterher, aber zwischen Bühne und Zuschauerraum liegt ein Graben. Sie stürzt hinein, und während sie unaufhörlich fällt, ruft sie seinen Namen.
Manchmal lichte Augenblicke. Dann weiß sie, dass sie arbeiten muss, dass kein Essen und kein Geld hereinkommt, wenn sie nicht arbeitet. Manchmal die Gesichter ihrer Kinder, manchmal Lydia, manchmal Olga.
Dann Meschenow, der sie in ihrer Fieberwelt ansieht und händeringend sagt: »Alles zu spät, Galina. Es ist alles zu spät.«
Manchmal der Schein der Petroleumlampe, manchmal ein bitterer Geschmack auf der Zunge, und immer wieder Ilja, wie er sich abwendet und geht.
In einem kurzen Moment bei Bewusstsein erkannte sie Lydia, und es gelang ihr, ein paar Worte zu flüstern. »In meinem Rock, Lydia, in dem Saum sind noch Schmuckstücke.« Dann fiel sie zurück ins Fieberdunkel, wo furchterregende Chimären neue Alpträume brachten.
Zwei Wochen vergingen, bis sie die Augen öffnete und ihre Umgebung wahrnahm. Sie lag im Krankenrevier, um sie herum etliche Betten, in denen gestöhnt, gehustet und geschlafen wurde. Von Olga erfuhr sie, wie schlimm es um sie gestanden hatte und dass Lydia Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, bis einige Nachbarn bereit gewesen waren, sie auf einer Trage in die Stadt zu bringen, weil ein Auto nicht zur Hüttensiedlung durchgekommen wäre.
Als sie nach dem Tag fragte, lächelte Olga: »Du hast Neujahr verpasst. Heute ist der dritte Januar.«
Erschrocken fuhr sie hoch. »Die Kinder. Was ist mit den Kindern? Die Kommandantur. Ich hätte mich gestern auf der Kommandantur melden müssen.«
Olga beruhigte sie. Lydia war täglich mit den Kindern da gewesen, und die drei waren mit Essensresten aus der Kantine versorgt worden. Die Kommandantur war über Galinas Gesundheitszustand informiert.
Am Nachmittag standen Lydia, Pawel und Ossip an ihrem Bett, und Galina konnte nur ahnen, welche Strapaze es für die zierliche Lydia sein musste, Ossip, der jetzt fast zwei war, auf dem Rücken durch den hohen Schnee zu schleppen. Eine Kollegin aus der Wäscherei besuchte sie und sagte: »Vier. Vier sind schon gestorben, und es werden wohl noch einige mehr.« Ganz selbstverständlich sagte sie das, so als ginge es um einen
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