Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
nicht nach vorne. Der Morgen mit seinem blassen Rosa hatte ihn aus allem gerissen, was bisher sein Denken geprägt hatte. Die Toten lagen in Reih und Glied in seinem Kopf. Sechzehn und Gerschow. Und noch einer. Einer, der den Mut gehabt hatte, davonzulaufen.
Kapitel 12
L ydia sollte recht behalten. Schon drei Tage später fielen die Nachttemperaturen ins Minus, und ab Oktober lagen selbst die Tagestemperaturen beständig unter dem Gefrierpunkt. Sie stopften die Ritzen in den Bretterwänden mit Lydias Stoffresten aus, aber die Kälte, so schien es, zog ungehindert herein. Die beiden Frauen rückten zusammen, wurden zu einer verlässlichen Gemeinschaft. Zum ersten Mal öffnete Galina nachts eine der Nähte an ihrem Rock, entnahm ihm die wenigen Rubel und gab sie Lydia mit der Bitte, Wintermäntel für die Kinder zu kaufen. Die traute ihren Augen nicht, führte die Scheine immer wieder zum Mund und küsste sie. »So viel Geld«, flüsterte sie, »Galina, da kriegen wir mehr für, lass mich mal machen.«
Lydia, die im Winter nicht mit ihren Puppen unterwegs war, sondern neue herstellte, zog nun wieder los. Die stille Frau kaufte nicht einfach Wintermäntel. Vielmehr ging sie zur Schneiderei und in die Textilfabrik und verhandelte um größere Reststücke, für die sie bereit war, einige Kopeken zu zahlen. Daraus nähte sie Kindermäntel, Hosen und Jäckchen, die wild geflickt aussahen, aber strapazierfähig und warm waren. Sie schaffte es, mit den wenigen Rubeln für die Kinder außerdem Walenkis zu besorgen, Filzstiefel, die ihnen bis zu den Knien reichten.
Der gusseiserne Ofen, den sie im Sommer nur zum Kochen anheizten, musste jetzt häufiger brennen. Sie brauchten Holz. Lydia organisierte mit ihrem Handkarren mehrere Säcke auf Vorrat.
Galina legte ihr eines Abends den Arm um die Schultern und sagte: »Danke, Lydia! Du bist so geschickt und lebensklug. Was täte ich nur ohne dich?«
Der kleinen Frau stiegen Tränen in die Augen. »Du bist schön, Galina. Du wirst bald einen Mann finden, der euch versorgt, und dann werdet ihr gehen.« Ihr Kopf wackelte unstet hin und her, und Galina sah zum ersten Mal die Angst und Einsamkeit in dieser beständigen Unruhe. Ein anderer Mann. Daran hatte sie noch nie gedacht. Der Gedanke schien ihr absurd.
Sie tätschelte Lydia die Wange. »Wir schaffen das«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Wir vier schaffen das zusammen.«
In den nächsten Wochen schien die Unruhe von Lydia zu weichen. Ihr grauer Kopf taumelte sachter, und es gab sogar Zeiten, wenn sie über ihre Näharbeiten gebeugt saß oder den Kindern Geschichten erzählte, da stand er still.
Weil sie Galinas Zimmer nicht heizen konnten, schliefen jetzt alle gemeinsam in der Küche rund um den Ofen, zugedeckt mit Decken und Mänteln. Morgens standen die Kinder am Fenster, hauchten kleine Gucklöcher in das vereiste Glas, während Galina und Lydia die spärliche Glut im Ofen wieder anfachten.
Auch die Arbeitsbedingungen in der Wäscherei wurden härter. Jetzt freute sich keine mehr, wenn sie hinüber in die Trockenhalle musste. Von der dampfenden Hitze im Waschkesselraum und dem Schweiß der schweren körperlichen Arbeit waren ihre Arbeitskittel feucht, und im Dezember, als die Tagestemperaturen bei minus zwanzig Grad und tiefer lagen, half es auch nicht, dass sie sich ihre Mäntel auf dem Weg zur Halle überzogen. Die Wäsche in den Körben war innerhalb kurzer Zeit angefroren. Die Kälte biss in Händen und Gesicht, zog in die feuchten Kittel, und sie spürten den groben Stoff auf der Haut steif werden. Die Trockenhalle wurde jetzt beheizt, und wenn sie den Raum betraten, kehrte stechend das Leben in ihre Glieder zurück. In den ersten Minuten in der Halle, wenn Hände und Füße wieder durchblutet wurden, gehorchten die Finger nicht, jeder Handgriff war schmerzhaft, und nach wenigen Tagen gab es kaum eine Arbeiterin ohne einen bellenden Husten.
Von Anfang November an fiel Schnee. Nur in der Stadt waren die Straßen geräumt. Galina stapfte durch hohe Schneewehen und brauchte für den Weg zur Arbeit doppelt so lang. Der Himmel lag morgens noch schwarz über der unendlichen Weite, und die schwachen Lichter der Stadt schienen ihr manchmal unerreichbar. In jener Schneestille, in der sich nichts zu rühren schien, dachte sie an Ilja, an Moskau und immer wieder an die Ereignisse, die sie herauskatapultiert hatten aus einem Leben, das ihr so sicher erschienen war. Er hatte diesen Antrag gestellt. Er hatte mit ihr und den
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