Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
natürlichen Tribut an den Winter.
Galina erholte sich nur langsam. Sie bat Lydia, nicht jeden Tag den beschwerlichen Weg zu machen, sondern ein Schmuckstück zu versetzen, Lebensmittel zu kaufen und mit den Kindern zu Hause zu bleiben.
Lydias Kopf wackelte heftig. »Einen Anhänger«, sagte sie, »habe ich den Nachbarn geben müssen, damit sie dich hertragen. Es sind nur noch die beiden Ringe da, und der Winter ist noch lang.«
Am elften Januar sollte sie das Krankenrevier verlassen, und am selben Tag kehrte der Arzt, der ihren Brief weitergegeben hatte, aus Moskau zurück. Galina saß bereit für den Heimweg auf dem Bett, steckte ihr Haar unter eine Mütze aus Fellresten, eines von Lydias Wunderwerken, als Olga sie auf den Flur winkte und ihr das Kuvert zusteckte. Aufgeregt suchte sie mehrere Minuten, bis sie endlich einen Abstellraum fand, in dem sie ungestört war.
Der Umschlag war dick. Ihre Hände zitterten, als sie ihn aufriss. Das Bündel Rubel schob sie zunächst ungezählt in ihre Jackentasche und faltete den Brief auseinander.
Meine liebe Galina Petrowna,
welch eine Erlösung, endlich von Ihnen zu hören, und doch wie traurig. Wochenlang habe ich versucht herauszufinden, was mit Ihnen und den Kindern geschehen ist, aber es war nichts zu erfahren. Sehnlich habe ich auf ein Lebenszeichen von Ihnen gewartet. Ilja, das hat inzwischen in allen Zeitungen gestanden, ist wohl in Wien. Er hat sich nicht mehr gemeldet, aber ich bin sicher, dass er damals nicht verstanden hat, was er seiner Familie damit antut. Oh, wie mich Ihr Schicksal schmerzt und wie unendlich hilflos ich mich fühle. Der junge Mann, der mir Ihren Brief überbracht hat, hat von Ihren Lebensbedingungen gesprochen, und ich bin erschüttert. Natürlich schicke ich Ihnen Geld und hoffe, dass die beigefügte Summe Ihre Situation ein wenig verbessern kann.
Der junge Mann ist bereit, auch bei seinem nächsten Besuch in Moskau als »Postbote« zu fungieren, und selbstverständlich werde ich Ihnen, soweit es in meiner Macht steht, weiterhin behilflich sein.
Sie sehen mich tief betrübt und doch voller Hoffnung, bald wieder von Ihnen zu hören.
Ihr Michail Michajlowitsch Meschenow
Lange blieb sie in der Wäschekammer am Fenster stehen und sah hinaus auf den Hof, auf dem sich schmale Trampelpfade durch den hüfthohen Schnee von einem Hauseingang zum nächsten zogen wie aufgedeckte Wühlmausgänge. »Ilja, das hat inzwischen in allen Zeitungen gestanden, ist in Wien. Ich habe nichts von ihm gehört.« Der Brief schien nur aus diesen beiden Zeilen zu bestehen.
Kapitel 13
R eger erwartete ihn auf dem Bahnsteig. Er begrüßte Sascha per Handschlag und sagte knapp: »Sie werden erst einmal hier bleiben. Ich habe Ihnen eine Unterkunft besorgt.«
Sie fuhren stadtauswärts. Reger berichtete, was er herausgefunden hatte.
»Die Waffe, mit der Vika und die Frau in der Pension getötet wurden, war eine russische PSM, Kaliber 5,45. Eine kleine, leichte Waffe, die in der Sowjetunion in den achtziger Jahren beim KGB verbreitet war. Sie ist nur achtzehn Millimeter breit. In Deutschland ist sie verboten, aber unter der Ladentheke ist da gut ranzukommen.«
Reger bog von der Landstraße ab und lenkte den Geländewagen auf einer schmalen, gewundenen Asphaltstraße eine Anhöhe hinauf. »Die Polizei geht inzwischen davon aus, dass Sie zusammen mit dem Täter das Holiday Inn verlassen haben. Man weiß, dass Sie nicht auf Ihre Schwester geschossen haben, vermutet aber, dass Sie da mit drinhängen. Es gibt die Zeugenaussage eines Securitymitarbeiters, der Sie erkannt haben will. Demnach haben Sie noch am selben Abend auf dem Münchner Bahnhof eine Tasche aus einem Schließfach geholt. Anhand der Videoüberwachung konnte das nachgewiesen werden. Es gibt außerdem den Videobeweis, dass ebendiese Tasche zwei Tage zuvor von Ihrer Schwester dort deponiert wurde.«
Sascha stöhnte auf.
Das kleine Hotel lag am Hang. Sie durchquerten die Lobby und setzten sich auf die mit Korbstühlen möblierte Terrasse. Im Tal zog der Rhein silbrig an einer kleinen Ortschaft vorbei. Die Schieferdächer dösten in der Sonne, Weizenfelder schoben sich golden die Anhöhe hinauf.
Eine junge Frau mit blauem Schlips und Weste kam an ihren Tisch und erklärte, dass die Terrasse für Hotelgäste reserviert sei. Reger nickte unwillig und sagte, dass er ein Zimmer auf den Namen Dörner reserviert habe. Er zeigte auf Sascha. »Herr Dörner wird bei Ihnen übernachten, aber bevor er eincheckt, haben
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