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Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Geiger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechtild Borrmann
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betrachtete Iljas Füße in den viel zu kleinen Schuhen. Er schüttelte den Kopf.
    »Da bist du auf die Dauer barfuß besser dran«, knurrte er, verschwand zwischen den Regalen und kam mit einem Paar abgetragener Schuhe zurück, deren Sohlen aus einem alten Autoreifen geschnitten waren. »Die Schuhe gegen eine Handvoll Machorka«, sagte er mit unbeweglicher Miene.
    Machorka war ein stinkender Tabak, der in Zeitungspapier geraucht wurde. Ilja hatte bereits auf der Fahrt gelernt, dass er unter den Häftlingen eine feste Währung war.
    »Hab ich nicht«, antwortete er und hielt die Schuhe fest im Blick.
    »Wenn du deine Arbeitsnorm erfüllst, bekommst du jede Woche zwanzig Gramm. Dann kannst du wiederkommen.«
    Er wollte das Schuhwerk schon zurücktragen, als Ilja danach griff. Er nahm seine Jacke, die man ihm auf der Fahrt mehrmals hatte stehlen wollen.
    »Du gibst mir die Schuhe, und ich lasse dir meine Jacke als Pfand, bis ich den Tabak habe.«
    Der Mann sah ihn ungläubig an. Dann zog sich auch sein rechter Mundwinkel hoch. Er nahm die Jacke und ließ die Schuhe los. Ilja umwickelte seine Füße mit den Fußlappen und zog sie an. Sie passten. Noch war es Sommer. Es war zwar kühl, aber bis es richtig kalt würde, hätte er die Jacke längst eingelöst.
    Eine lächerlich kleine Episode, aber an jenem Nachmittag war es ihm wie ein Sieg vorgekommen, ja, er hatte sogar eine Art Zuversicht empfunden, hatte gedacht: Eine andere Welt, aber ich kann lernen, ich kann mich zurechtfinden.
    Wieder versammelten sie sich auf dem Appellplatz. Er wurde der Baracke 6 und der Arbeitsbrigade 35 zugeteilt. Die Behausung war armselig und um diese Zeit menschenleer. Zu beiden Seiten waren Holzgerüste mit zwei Lagen Bretterböden angebracht, wie langgezogene Stockbetten, die den Raum fast ganz in Anspruch nahmen. In der Mitte ein schmaler Gang. Die Säcke, die als Schlafunterlage dienten, waren mit Holzspänen gefüllt und platt gelegen. Ihr fauliger Geruch vermischte sich mit dem Gestank von abgestandenem Männerschweiß. Ilja überschlug im Kopf die Schlafplätze. Es mussten ungefähr fünfzig sein.
    Links neben dem Eingang stand ein Kohleofen, darüber hingen auf einer provisorischen Leine Wäschestücke. Ein Mann mit grauen Stoppeln auf dem Kopf wurde ihm als Barackenältester vorgestellt. Er schüttelte den Kopf und sagte: »Der nicht. Nicht hier.« Der Aufseher, der Ilja begleitet hatte, hob die Schultern und sagte fast entschuldigend. »Geht nicht anders. Er ist der Fünfunddreißigsten zugeteilt.« Als er ging, fügte er hinzu: »Reg dich nicht auf, Alter. Ist sicher nicht für lange.«
    Der Alte hieß Kolja und kümmerte sich um die Ordnung in der Baracke. Er erklärte Ilja das Gelände, zeigte ihm die Latrinen hinter den Schlafbaracken, das Verwaltungsgebäude, die Krankenbaracke, die Essensbaracke und den Isolator. Rund um das Gelände unterhalb der Wachtürme galt ein zwanzig Meter breiter Streifen als verbotene Zone.
    »Ein Fuß in die Zone«, sagte Kolja, »und sie knallen dich ab wie einen räudigen Hund.« Später sprach er von den Urki, nannte sie abschätzig »die Tätowierten«.
    »In unserer Baracke gibt es keine«, sagte Kolja stolz, »da haben wir für gesorgt. Die sind fast alle in Nummer 3. Da bleibst du am besten weg.«
    Als sie über den schlammigen Platz zurückgingen, sah der kleine Alte zu ihm auf und lächelte. »Wir sind alle Seki, Zwangsarbeiter, und wir wollen alle überleben. Es gibt viele, die arbeiten als Informanten für die Lagerleitung, und sicher wird man auch dir ein Angebot machen. Eine leichtere Arbeit, vielleicht größere Essensrationen, Tabak oder sogar die Aussicht, ein, zwei Jahre deiner Strafe zu streichen. Das ist alles verlockend, aber du solltest bedenken, in unserer Baracke gibt es nur einen Informanten«, sein Lächeln wurde breiter, »und den haben wir gewählt. Daneben kann es keinen anderen geben.«
    Ilja lernte noch, dass alle, die keine Seki waren, mit Bürger angesprochen wurden, und wenn man es vergaß, empfindliche Strafen drohten.
    Am Abend kamen die Häftlinge aus dem Schacht. Eine Sirene rief zum Zählappell. Die »Neuen« wurden ihren Brigaden zugeteilt. Schon während sie auf dem Appellplatz standen, spürte Ilja, dass er von den Männern um sich herum kritisch taxiert wurde. Über eine Stunde standen sie, zählten dreimal durch, und die Brigadiere brüllten Zahlen, die besagten, ob die Männer das Tagessoll erreicht hatten. Dann konnten sie endlich zur

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