Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
muss mit Tjotja Alja sprechen. Wenn das …«, er ließ sich in seinen Sessel fallen und sah Reger an. »Die haben meine ganze Familie ausgelöscht! Verstehen Sie denn nicht, dass ich wissen muss, was passiert ist, und vor allem, wer dafür verantwortlich ist? Außerdem, wenn die von mir wissen, was soll ich dann Ihrer Meinung nach tun? Mich hier bis ans Ende meiner Tage verkriechen? Mich von der deutschen Polizei verhaften lassen?« Er hatte sich vorgebeugt und sprach eindringlich.
Reger trank von seinem kalt gewordenen Tee und verzog das Gesicht. Dann griff er in seine Brusttasche und schob Sascha einen Reisepass auf den Namen »Simon Dörner« über den Tisch. »Checken Sie ein, und dann geben Sie mir den Pass zurück. Sie brauchen ein Visum. Ich kenne da jemanden, der das bis morgen erledigen kann.«
Reger hatte sich schon lange verabschiedet, als Sascha immer noch auf der Terrasse saß. Er nahm das Ringbuch mit den Fotos zur Hand. Erst jetzt fiel ihm der Zeitsprung auf. Seine Großeltern in jungen Jahren. Hochzeitsfotos. Der Großvater groß und schmal, fast jungenhaft, neben seiner schönen Braut. Er nahm die Zeitungsartikel dazu. Artikel über Konzerte, in denen von dem großen Talent des Ilja Wassiljewitsch Grenko die Rede war, einer war überschrieben mit »Tosender Applaus für Grenko«, ein anderer titelte »Leningrad bejubelt den jungen Geiger Grenko«. Andere Artikel berichteten über Theaterpremieren, auf denen Galina Petrowna Grenko gefeiert wurde. Ein Porträtfoto neben einer der Meldungen zeigte eine schöne, selbstbewusst lächelnde Frau.
Im Album waren nur wenige Fotos des jungen Paares zusammen mit dem kleinen Pawel. Eines zeigte Ilja Grenko mit einem älteren Mann. Auf der Rückseite stand in schön geschwungenen kyrillischen Buchstaben: Ilja und sein Mentor Professor Meschenow. Noch einige Bilder von Pawel und einem Baby. Wieder die feine Schrift auf der Rückseite: »Pawel und Ossip Winter 1947«.
Auf dem nächsten Bild waren sein Vater und der Onkel bereits erwachsen. Sie standen vor dem Haus, in dem Sascha seine ersten Lebensjahre verbracht hatte. Er drehte es um. Die Schrift war ohne Fluss, wirkte beschwerlich: Pawel und Ossip vor unserem Haus.
Aber wo waren die Jahre dazwischen?
Als Kind war ihm nicht aufgefallen, dass auf den wenigen Fotos, die noch folgten, der Großvater nie zu sehen war. Man hatte ihm gesagt, dass er gestorben war, aber niemand hatte ihm gesagt, wann und wo. Und er hatte nicht gefragt. Großmutter Galina war alt, und für ihn war selbstverständlich gewesen, dass der Großvater ebenfalls alt geworden war. Er hatte sich vorgestellt, dass er vor seiner Geburt gestorben war.
Die Sonne wanderte in Richtung Westen, erste Schatten legten sich über die Terrasse, aber es war immer noch angenehm warm. Er bestellte sich ein Steak und Salat und aß im Freien.
Der Gedanke, dass er nichts über seine Herkunft wusste, dass er mit einer falschen Geschichte gelebt hatte, brachte eine Unruhe mit sich, die ihm den Appetit nahm.
Für ihn war seine Familie bis gestern eine Arbeiterfamilie aus einem kleinen kasachischen Dorf gewesen. Einfache Leute, die seit Generationen dort gelebt hatten. Zum ersten Mal dachte er, dass sein Leben vielleicht darum so chaotisch verlaufen war, dass er sich nach dem Tod der Eltern nirgendwo zugehörig gefühlt hatte. Seine Wurzeln waren Luftwurzeln gewesen, hatten ihm nie Halt gegeben. Im Erziehungsheim und später auch in der Jugendhaft hatte man ihm Respekt gezollt, weil er alle, ob Türken, Araber, Russen oder Deutsche, in ihrer jeweiligen Sprache ansprach und, wenn nötig, bedrohte. Er war groß und durchtrainiert und hatte damals den Ruf, zuzuschlagen, wenn man ihm zu nah kam. Im Jugendknast nannten sie ihn »Kasache«, obwohl sein Vater Russe gewesen war und er selbst längst einen deutschen Pass besaß.
Auf der Terrasse hatten sich inzwischen andere Hotelgäste zum Essen eingefunden. Eine Gruppe junger Männer, offensichtlich Fahrradtouristen, hantierte mit Landkarten, während der Kellner versuchte, Weizenbiergläser auf dem Tisch unterzubringen. Ein Pärchen in Wanderkleidung hatte nur Augen für sich. Auf der anderen Seite hatte eine Familie mit zwei Kindern Platz genommen, und an einem kleinen Ecktisch saß ein Mann um die vierzig, mit einem Buch beschäftigt.
Der Kellner räumte Saschas Teller ab, und er bestellte ein Glas Riesling und Wasser. Noch einmal blätterte er die losen Fotos durch, nahm das Bild zur Hand, das kurz vor ihrer
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