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Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Geiger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechtild Borrmann
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Arbeitserleichterungen verschafften, indem sie in der Pause mit dem einen oder anderen Mann verschwanden.
    Wenn sie abends, nach zehn Stunden Arbeit, völlig erschöpft in die Stadt zurückfuhren, schlief Galina meist auf der Ladefläche ein. Anschließend hatte sie noch den einstündigen Weg ins Dorf vor sich. Sechs Tage die Woche war sie dreizehn bis vierzehn Stunden fort, und oft schliefen die Kinder schon, wenn sie heimkam. Es tat ihr weh, wenn Pawel und Ossip immer öfter versehentlich zu Lydia »Mama« sagten.
    Als sie ihren ersten Lohn bekam, traute sie ihren Augen nicht. Sie hatte vierzig Rubel mehr in ihrer Abrechnung, als angekündigt waren. Sie zögerte, dachte an ein Versehen, aber dann nahm sie das Geld und ging hinaus. Vor der Tür traf sie auf Aivars Vanags, den Vorarbeiter der Teerkolonne, der ebenfalls seinen Lohn abgeholt hatte. Der stille, kräftige Mann mit dichten blonden Haaren und freundlichen dunklen Augen kam aus Lettland. Er lächelte sie wie immer schüchtern an.
    Weil sie Angst hatte, dass man das Versehen bemerken könnte und sie bezichtigen würde, das Geld unterschlagen zu haben, erzählte sie ihm davon. Aivars schüttelte den Kopf. »Nein, das ist schon richtig. Der Zuschlag richtet sich nach den Kilometern, die wir schaffen.« Er wich ihrem Blick verlegen aus. »Das sind im Sommer oft einige Rubel, aber Sie sollten sparsam damit umgehen, Galina Petrowna. Im Winter schaffen wir nicht viel, weil wir morgens erst den Schnee wegräumen müssen und der Boden gefroren ist. Dann verdienen wir sehr wenig.«
    Galina schöpfte Hoffnung. Die Scham, mit der sie im Winter Meschenow um Geld gebeten hatte, war gewichen. Wenn sie sparsam war und auch im kommenden Winter einen Bittbrief schicken könnte, würde sie ihre Kinder durchbringen. Als sie sich auf den Heimweg machen wollte, fragte Aivars, ob er sie ein Stück begleiten dürfe.
    Zunächst gingen sie schweigend. Nach einer Weile begann Aivars, von Lettland zu erzählen, von der unerschöpflichen Vielfalt der Natur, von Riga und dem Meer, das er als Steuermann eines Frachters befahren hatte. 1941 wurden Tausende von Letten zwangsumgesiedelt, und die, die sich widersetzt hatten, waren verbannt worden. Galina fühlte sich in seiner Gegenwart wohl und lachte mit ihm, als er ironisch bemerkte: »Als wir hier ankamen, habe ich gedacht, was wollen die mit einem Steuermann in der Steppe.«
    Sie erzählte von sich, von ihren Kindern und Lydia, und dann brach ein Damm, und sie sprach von Ilja, der nach Wien gegangen war und damit ihre Verbannung verschuldet hatte, der sie ihrem Schicksal überlassen hatte, und jeder Satz war ihr bitter auf der Zunge. Aivars hörte aufmerksam zu, und ehe sie es sich versahen, waren sie in der Hüttensiedlung angekommen. Als sie sich verabschiedeten, gestand sie sich ein, dass sie seine Gegenwart genossen hatte. Und sie sah Lydia vor dem Haus sitzen. Lydia mit Angst und Treue im Blick und unruhig taumelndem Kopf.

Kapitel 16
    E r ging zügig durch den angenehm warmen Abend, wäre gerne den schmalen Wanderwegen, die in einen dichten Mischwald hineinführten, gefolgt, aber die Dämmerung hielt ihn auf der schmalen Straße, die weiter bergan führte. Die Nylontasche schlug im Rhythmus seiner Schritte gegen die Hüfte. Er geriet ins Schwitzen, sein Zorn wich, und mit ihm löste sich die Verkrampfung in Schultern und Händen. Er versuchte sich an Tjotja Alja zu erinnern. Sie war eine kleine, dralle Frau gewesen, die immer in Bewegung schien. Schon damals hatte sie in einem Büro gearbeitet. Einmal hatte er sie weinen sehen, und Babuschka Galina hatte zu ihm gesagt, sie sei traurig, weil jetzt feststünde, dass sie keine Kinder bekommen könnte. Er war fünf oder sechs Jahre alt gewesen, und abends hatte er seine Mutter gefragt, ob sie nicht noch ein Kind bekommen und es Tjotja Alja schenken könnte.
    Es war halb elf, als er das Hotel wieder betrat. Das Schlafdefizit der vergangenen Nacht machte sich bemerkbar. Die Codekarte für sein Zimmer funktionierte nicht, und er ging noch einmal hinunter an die Rezeption. Der junge Mann lächelte und erklärte, dass er die Karte wahrscheinlich nicht lange genug habe stecken lassen. Er begleitete Sascha hinauf in den ersten Stock, aber auch seine Versuche, die Zimmertür zu öffnen, scheiterten. »Ein Codierfehler«, sagte er entschuldigend, »ich hole die Generalkarte.« Sascha wusste augenblicklich, dass es kein Codierfehler war.
    Als er sein Zimmer endlich betreten konnte, fiel sein

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