Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
ergriff die knochige Hand.
Eine Sirene heulte auf, und Juri rief: »Grenko, komm.«
Ilja reagierte nicht, wiederholte immer wieder: »Alexei Alexejewitsch, erkennen Sie mich denn nicht?«
Zwei der Männer aus seiner Brigade zogen ihn fort.
»Aber …«, stammelte er, »aber warum lässt man ihn …«
»Er ist taub und schon durchgedreht hier angekommen«, unterbrach Juri ihn schroff, »und wer nicht arbeiten kann, bekommt nicht genug zu essen. So einfach ist das.«
In der Schlafbaracke legte Ilja sich sofort auf seinen modrig riechenden Spansack, zog die Decke über den Kopf und kämpfte gegen einen Schmerz, der seine nachmittägliche Zuversicht verbrannte. Tränen liefen ihm über das Gesicht.
Später wusste er nicht, ob er an jenem Abend um Rybaltschenko geweint hatte oder um sich, denn an diesem Abend meinte er zu begreifen, was tatsächlich mit ihm geschehen war. Er dachte, dass Juri Schermenko vielleicht recht hatte und auch über ihn zu lesen gewesen war, dass er das Land verlassen habe. Er dachte an Galina und Meschenow. Nein. Nein, sie würden eine solche Meldung nicht glauben, und der Pförtner hatte es doch gesehen, er hatte gesehen, wie er verhaftet worden war. Sie kannten die Wahrheit.
Taub. Auf dem Weg zur Baracke hatte Stas gesagt, dass sie Rybaltschenko in den Verhören mit einem Sandsack immer wieder auf die Ohren geschlagen hatten.
Er schloss erschöpft die Augen, und zum ersten Mal seit Wochen, vielleicht weil der Hunger nicht an seinem Verstand zerrte, hörte er in seinem Kopf wieder Musik. Er sah Rybaltschenko an seinem Flügel, sah die Hände virtuos über die Tasten fliegen, als er das zweite Klavierkonzert von Brahms spielte. Er hörte die Hörner einsetzen, hörte Rybaltschenkos Klavierspiel, wie er sacht begann, zwischen den Hörnern und den hinzukommenden Instrumenten zu vermitteln, und das Thema weiterführte, bis das ganze Orchester antwortete. Der heroische Mittelteil, die immer wieder wechselnden Stimmungen, und er sah das Lächeln auf Rybaltschenkos schweißnassem Gesicht, als ihn die federnde Leichtigkeit der Coda erfasste.
Als Ilja endlich eingeschlafen war, wanderte die verhungerte Gestalt des Pianisten durch seine Träume und hielt ihm die knöcherne Hand entgegen.
Kapitel 15
E nde Januar nahm Galina ihre Arbeit in der Wäscherei wieder auf. Meschenows Brief trug sie wochenlang mit sich herum, las ihn wieder und wieder.
Sieben Jahre hatte sie mit Ilja geteilt. Hatte sie ihn so wenig gekannt? Seine Musik, das hatte sie gewusst, war ihm das Höchste gewesen, aber dass er sie und die Kinder so verraten würde, das konnte sie nicht fassen.
Olga hatte eine ärztliche Bescheinigung besorgt, dass Galina in den nächsten vier Wochen ausschließlich in der Waschküche eingesetzt werden dürfe und nicht durch die Kälte in die Trockenhalle gehen musste, doch trotz dieser Vergünstigung schien sie sich zunächst nicht zu erholen. Die verheilten Hände und Arme rissen bald wieder auf, und jetzt zeigten sich auch die ersten offenen Stellen im Gesicht.
Mit dem Geld, das Meschenow geschickt hatte, kamen sie gut über den Winter. Lydia weinte und küsste Galina, als sie davon erfuhr. Sie kaufte Hirse, Kartoffeln und Kohle und summte vor sich hin vor Glück. Eines Tages kam sie mit einer kleinen Tafel und einem Stück Kreide und begann, Pawel das Alphabet zu lehren. Für Galina organisierte sie warme Stiefel und nähte ihr aus dickem Wollstoff eine lange Hose.
Anfang April setzte endlich Tauwetter ein. Die Sonne legte ein Funkeln auf die weiße Weite, brannte nach und nach Löcher in die Schneedecke, und die Steppe zeigte für kurze Zeit Federgras, blühendes Johanniskraut, Baldrian und Wermut.
An einem Abend, die Sonne stand voll und kürbisrot hinter dem ärmlichen Hüttendorf, begriff Galina, dass sie, solange sie auf ein Lebenszeichen von Ilja hoffte, nicht die Kraft finden würde, nach vorne zu schauen. Sie musste mit der Vergangenheit abschließen und ihr Leben in die Hand nehmen. An jenem Abend löste sie ihren Ehering aus der Rocknaht und entschied sich, ihn zu verkaufen.
Lydia zog wieder mit den Kindern und ihren Puppen zum Bahnhof. Abends stand sie häufig am Tor der Wäscherei, und sie gingen gemeinsam nach Hause. Ossip stolperte mit seinen kurzen Beinchen hinter Pawel her, und in diesen Augenblicken empfand Galina eine Art bescheidenes Glück. Ein Glück, das sich nicht in die Zukunft dehnte, nur den Moment einfing und ihr Kraft gab.
Ihre Kinder waren gesund und
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