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Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Geiger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechtild Borrmann
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Essensbaracke.
    Iljas Brigadier hieß Juri Schermenko und war Offizier in der Roten Armee gewesen. Ein stämmiger Mann mit ungewöhnlich blassgrauen Augen, die fast farblos schienen. An der Essensausgabe hatte Ilja nur Augen für die Teller, die ausgegeben wurden. Die Brigadiere wiederholten auch hier die Tagesleistung ihrer Brigade, und danach richtete sich offensichtlich, wie gut die Teller gefüllt wurden.
    Juri Schermenko sagte: »Neunzig Prozent Normerfüllung, elf Mann.«
    Die Portionen waren groß. Seine Männer bekamen doppelt so viel Brot wie die Männer vor ihnen, und in der Gemüsesuppe schwammen deutlich sichtbar Kohl und Kartoffeln.
    Als Ilja an der Reihe war, schüttelte der Koch den Kopf und sah zu Juri hinüber, der am Tisch saß und aß. »Elf Männer hast du gesagt.«
    Juri knurrte, ohne aufzusehen: »Stimmt, aber der ist neu und mir zugeteilt, also gib ihm zu essen.« Es klang wie ein Befehl.
    Ilja aß gierig und wurde zum ersten Mal seit seiner Verhaftung fast satt.
    Als sie auf den Platz hinaustraten, umringten ihn die Männer der 35. Brigade. Juri Schermenko trat dicht an Ilja heran und betrachtete ihn abschätzig.
    »Zwei Dinge, die du dir merken solltest«, sagte er, und seine Augen wurden schmal. »Wenn du nicht schnell genug arbeitest und unsere Arbeitsnorm versaust, bekommt die ganze Brigade weniger zu essen.« Er machte eine ausladende Armbewegung in die Runde. »Und das würden wir dir übelnehmen. Das verstehst du doch?«
    Ilja schluckte.
    Juri zeigte auf eine Gestalt mit nacktem Oberkörper. Die zerlumpte Hose war verdreckt und mit einem Strick um die vorstehenden Beckenknochen gebunden. Er schlich um die Essensbaracke herum. »Siehst du den Dochodjaga da? Hier kann man sehr schnell einer von ihnen werden.«
    Ilja starrte den Mann an, der vor sich hin brabbelnd die Bretterwand abtastete. Ein Dochodjaga, dachte er, ein Todgeweihter.
    Juri fuhr fort. »Zweitens. Wenn irgendetwas, was in der Baracke oder im Schacht geschieht oder gesprochen wird, an die Lagerleitung gelangt, bist du ein toter Mann.«
    Ilja, der den Blick nicht von dem Dochodjaga lassen konnte, schluckte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Männer seiner Brigade durchwegs kräftig waren.
    Ein Mann um die dreißig, den sie Stas nannten, war fast so groß wie er, aber deutlich muskulöser. Er trat dicht an ihn heran. »Bei uns bekommt jeder seine Chance, aber wir schleppen keinen durch, ist das klar?«, sagte er barsch. Und dann fragte er, was Ilja bisher gearbeitet habe und wo er herkomme. Als er »Musiker« antwortete und »Moskau«, ging ein Stöhnen durch die Gruppe.
    Sie fragten ihn: »Wie lange hast du?«
    Bei seiner Antwort wurde es still.
    »Erzähl«, forderte Juri ihn auf, und Ilja hob hilflos die Schultern, erzählte von jenem Abend nach dem Konzert, von den Wochen in der Lubjanka, von dem, was man ihm vorgeworfen hatte, und sogar von Kuraschs Versprechen, seine Familie bei einem Geständnis zu verschonen. Die Männer standen um ihn herum, rauchten und hörten mit misstrauischen Mienen zu. Während er sprach, sahen einige von ihnen immer wieder zu dem Dochodjaga hinüber, der sich am Eingang der Essensbaracke duckte. Als Ilja geendet hatte, packte Juri ihn fest am Arm. Seine hellen Augen waren jetzt schmale Schlitze: »Musiker. Schüler am Tschaikowsky-Konservatorium bist du gewesen, ja? Wenn du uns keinen Scheiß erzählt hast, dann musst du den doch kennen. Also? Wer ist das?« Juri zeigte auf die zerlumpte Gestalt.
    Ilja schüttelte den Kopf. »Nein, den …«
    Dann schnappte er nach Luft.
    »Rybaltschenko«, flüsterte er und spürte, wie er zu zittern begann. »Aber … In der Zeitung stand, er habe das Land verlassen … er sei in Europa.«
    Die Männer um ihn herum nickten sich zufrieden zu, ihr Misstrauen schien sich aufzulösen. Ilja bemerkte es nicht, hörte nur von fern Juri sagen: »Dann wird man wohl Ähnliches auch von dir in der Prawda lesen können.«
    Ilja lief zur Essensbaracke. »Alexei Alexejewitsch Rybaltschenko?«, sprach er die halbverhungerte Gestalt an, die noch vor wenigen Monaten einer der gefeierten Pianisten Russlands gewesen war. Der Mann reagierte nicht, starrte wie blind durch ihn hindurch und schob vorsichtig bittend eine Hand vor. Arme, Brust und Rücken zeigten eiternde Furunkel.
    Rybaltschenko war Ende fünfzig. Sie waren keine Freunde gewesen, hatten nur ab und an höfliche Konversation betrieben, aber Ilja hatte mehrere seiner Klavierkonzerte besucht. Er hockte vor dem Mann,

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