Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
inzwischen gut genährt, und zusammen mit Lydia waren sie wie eine kleine funktionierende Familie.
Dass die Kolleginnen im Umgang mit ihr wortkarg wurden und in der Kantine der Platz neben ihr bis zuletzt unbesetzt blieb, bemerkte sie zu spät.
Eines Abends, bevor sie sich auf den Heimweg machte, sprach sie Magdalena an, eine ältere Wolgadeutsche, die schon seit Jahren in der Wäscherei arbeitete und mit der sie immer gut ausgekommen war.
»Was fragst du?«, antwortete Magdalena kurz. »Glaubst du, wir sind dumm?«
Galina sah sie hilflos an. »Aber was hab ich denn getan?«
Magdalena verzog verächtlich das Gesicht. »Du bist hier diejenige, die dumm ist. Solche wie dich haben wir schon hundert Mal gehabt. Aber die meisten waren geschickter, sie haben ihren Informantenlohn nicht gar so offen gezeigt wie du, Galina Petrowna.«
Dann spuckte sie aus und ging davon.
Galina stand sprachlos im Eingang der Waschküche, brauchte lange, bis sie verstand, was man ihr unterstellte.
Sie ging hinüber ins Krankenrevier, traf Olga aber nicht an. Zu Hause besprach sie sich mit Lydia, deren Kopf, kaum dass Galina geendet hatte, unruhig taumelte. »Das ist nicht gut«, flüsterte sie, »das ist gar nicht gut.«
Sie dachten darüber nach, Magdalena den Brief zu zeigen, damit sie wusste, woher das Geld kam. Aber wenn es die Runde machte, wenn es an falscher Stelle weitererzählt wurde, dann brachte sie auch Olga, den Arzt, der als Bote fungiert hatte, und Meschenow in größte Schwierigkeiten.
Schon am nächsten Tag wurde sie ins Wäschereibüro zitiert. Sie habe, so lautete der Vorwurf, in den letzten Wochen unsauber gearbeitet. Man legte ihr gewaschene Laken vor, die braune Blutränder zeigten. Sie starrte die Wäschereileiterin sprachlos an, schüttelte ungläubig den Kopf und schluckte an den aufkommenden Tränen.
»Aber woher wollen Sie denn wissen, dass ich diese Laken gewaschen habe«, wagte sie sich vor.
Die Frau beschäftigte sich mit den Papieren auf ihrem Schreibtisch und sagte, ohne aufzusehen: »Melden Sie sich auf der Kommandantur. Man wird Ihnen eine andere Arbeit zuweisen.«
Als sie in der Waschküche ihre Sachen zusammenpackte, konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Was sollte jetzt werden? Kein Essen mehr aus der Kantine. Einige Wochen würden sie von Meschenows Geld leben können, aber sie wusste auch, was sie jetzt erwartete. Die Ziegelei, der Wohnungsbau, der Straßenbau. Das waren die Arbeiten, die von der Kommandantur vergeben wurden.
Als sie sich umdrehte, stand Magdalena vor ihr. »Hast du wirklich geglaubt, wir lassen uns das gefallen«, sagte sie mitleidslos.
Galina drehte sich um, und plötzlich packte sie Zorn. »Du bist selbstgefällig, Magdalena, und die Wahrheit interessiert dich nicht. Ich bin keine Informantin. Das Geld …«, sie schluckte, aber dann war ihr alles egal. »Ich habe Post bekommen«, flüsterte sie.
In Magdalenas Gesicht zuckte es. Sie zischte: »Ach ja? Und warum hast du das nicht gesagt?«
»Weil ich weder schreiben noch Post empfangen darf«, flüsterte sie, »und weil ich Angst hatte, dass es herauskommt.«
Magdalena verschränkte die Arme vor der Brust und wich ihrem Blick aus. Dann sagte sie: »Da kann man jetzt nichts mehr machen.« Bevor sie sich umdrehte, hob sie noch einmal ihren schuldbewussten Blick. »Von mir erfährt jedenfalls niemand was.«
Galina lachte bitter auf. »Was soll das heißen? Dass du weiterhin behaupten wirst, dass ich eine Informantin bin?«
Magdalena ging wortlos davon.
Lydia weinte. Wenn sie jetzt alle Lebensmittel kaufen mussten, würden sie es bis zum Winteranfang schaffen, aber länger nicht.
Schon am nächsten Tag wurde Galina eine Arbeit im Straßenbau zugewiesen. Morgens wurde sie mit anderen Frauen und Männern auf einen Lastwagen geladen und zur Baustelle gefahren. Unter der sengenden Sonne bereiteten sie das Straßenbett vor, indem sie Schubkarre für Schubkarre Sand und Geröll abtrugen.
Ihre Hände waren von der Arbeit in der Wäscherei mit offenen Stellen übersät. Jetzt verbrannte die Sonne ihr gleich am ersten Tag Handrücken, Nase und Stirn. Lydia besorgte dünne Handschuhe und fabrizierte aus Draht und Stoff einen Hut mit breiter Krempe.
Mittags bekamen sie eine Mahlzeit, die oft schon kalt war.
An die anzüglichen Bemerkungen der Männer hatte sie sich bald gewöhnt und konnte sie ignorieren. Sie waren acht Frauen in der Kolonne, und sie lernte auch, dass einige ihrer Kolleginnen sich
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