Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
nahm wahr, dass die Fenster nicht mit Brettern vernagelt waren, dass sie hinaussehen konnte, wo das karge Land an ihnen vorbeizog. Pawel, der immer noch auf Aivars’ Schoß saß, schien sich gefangen zu haben.
Endlich lächelte sie. »Es wird schon gutgehen«, sagte sie zu den Kindern und wusste doch, dass sie sich damit selbst Mut zusprach.
Alma-Ata sollte die richtige Entscheidung gewesen sein. Das mildere Klima, der Blick auf das Tian-Schan-Gebirge mit seinen bewaldeten Hängen und schneebedeckten Gipfeln, das fruchtbare Land mit den Obstwiesen, alles war wie ein Versprechen. In einer Siedlung am Stadtrand bekamen sie eine Wohnung, die aus zwei kleinen Zimmern mit einem Waschbecken bestand. Die Toilette war auf dem Flur.
Sie meldeten sich auf der Kommandantur. Aivars wurde auch hier im Straßenbau eingesetzt, Galina in einer Textilfabrik. Die Arbeit war hart, aber sie kamen zurecht, und nach einem Jahr bekam Aivars ein Stückchen Brachland, sechs Kilometer außerhalb der Stadt, zur Bewirtschaftung zugesprochen. Er baute aus rohen Brettern eine Datscha, pflanzte Obstbäume, und Lydia legte einen Gemüsegarten an.
Mit seiner stillen Zuverlässigkeit gewann Aivars Galinas Zuneigung. An einem Abend, den sie alleine in der Datscha verbrachten, gab sie sich ihm hin, nahm wie eine Ertrinkende seine Zärtlichkeit in sich auf. Endlich, so schien ihr, war sie angekommen. Angekommen in einem neuen Leben.
Die Jungen besuchten die Schule, Lydia machte sich von Frühling bis zum Spätherbst täglich zu Fuß auf den Weg zur Datscha. Im Sommer konnte sie sogar Teile ihrer reichhaltigen Ernte auf dem Wochenmarkt verkaufen. Das unstete Wanken ihres Kopfes verlor sich nun ganz.
Einmal im Monat meldeten sie sich wie Hunderte andere auf der Kommandantur. Dieser monatliche Gang erinnerte sie daran, dass sie immer noch Verbannte waren. Dieser Gang und Aivars’ Heimweh, das in seinen Augen lag, wenn sein Blick in die Ferne schweifte und er von Lettland erzählte. Das Heimweh, das in seiner Stimme lag, wenn er, nachdem sie miteinander geschlafen hatten, sagte: »Irgendwann werden wir frei sein. Dann gehen wir nach Hause, und du wirst meine Frau.« In solchen Momenten strich sie ihm zärtlich durch sein dichtes Haar und schwieg.
Jahre später würde sie sagen: »Wir hatten ausreichend zu essen und waren voller Zuversicht. Sieben Jahre lang.«
Kapitel 19
E r hatte versucht zu schlafen, aber die Information, dass Kalugin aus Köln kam, machte ihn unruhig. Gegen ein Uhr in der Nacht verließ er seinen Sitzplatz, sagte der Stewardess, dass er sich ein wenig die Beine vertreten wolle, und schlenderte den Gang entlang.
Die meisten Passagiere schliefen, einige wenige verfolgten über Kopfhörer eine Komödie auf den kleinen Bildschirmen. Der Mann, der auf der Hotelterrasse ein Buch gelesen hatte, war nicht an Bord. Erleichtert kehrte Sascha zurück an seinen Platz.
Die Abfertigung in Almaty verlief problemlos. Immer wieder sah er sich um, prägte sich die Gesichter der männlichen Passagiere ein. Da er nur Handgepäck mit sich führte, gehörte er zu den Ersten, die den Zoll passierten. Zielsicher kam eine Frau auf ihn zu. Sie trug Jeans und eine kurze, gewebte Jacke in verschiedenen Rottönen. Das braune Haar war zu einem kunstvollen Knoten zusammengesteckt. Dunkle Augen taxierten ihn kritisch, bevor sie ihm die Hand entgegenstreckte. Die hohen Wangenknochen gaben ihrem Gesicht etwas Asiatisches. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Vermutlich war sie ungefähr in seinem Alter.
»Sascha Grenko? Mein Name ist Irina Bukaskina. Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug«, sagte sie in gebrochenem Deutsch. Er ergriff ihre Hand, begrüßte sie auf Russisch und sah sie erleichtert aufatmen.
»Sie sprechen Russisch. Das ist gut. Hier entlang bitte.« Sie ging ihm voraus in Richtung Ausgang. Auf dem Parkplatz bestiegen sie einen alten dunkelgrünen Lada, der an etlichen Stellen mit grauer Grundierung behandelt worden war.
Der Morgen war kühl. Im Norden, über dem schneebedeckten Gipfel des Pik Talgar, lag bereits das sommerliche Blau des anbrechenden Tages. Sascha war als Kind zweimal zum 9. Mai, dem Tag des Sieges, der das Ende des Zweiten Weltkrieges feierte, in Alma-Ata gewesen. Die Bilder seiner Erinnerung hatten nichts mit der Stadt gemein, die sie jetzt durchquerten. Eine Silhouette aus modernen Bürotürmen lag vor dem Gebirge, Kräne ragten auf, und die breiten Straßen pulsierten wie Blutbahnen durch die Stadt.
Damals waren
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