Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
Paraden durch die Straßen gezogen. Die Menschen hatten dicht gedrängt am Straßenrand gestanden, und er hatte die Hand der Mutter fest umklammert. Von der Parade hatte er nicht viel gesehen, aber die Marschmusik meinte er noch im Ohr zu haben. Auf dem Heimweg war er fest davon überzeugt gewesen, dass Alma-Ata die größte Stadt der Welt war.
Irina fuhr ins Zentrum. Ihre Wohnung lag im sechsten Stock eines verwitterten Siebziger-Jahre-Blocks am Rande eines Parks. Die Eingangstür schien mehrmals aufgebrochen worden zu sein, der Aufzug war mit Graffiti übersät und roch nach Schweiß und Urin. Umso mehr überraschte ihn die geschmackvoll eingerichtete kleine Wohnung. Sorgfältig restaurierte alte Möbel, kombiniert mit funktionalem Glas und hellem Holz. Im Wohnzimmer lagen große bunte Sitzkissen auf einem alten Perserteppich. In der Mitte stand ein niedriger Tisch.
Das Fenster gab den Blick auf den Park frei. In der Grünanlage glitzerten zwischen hohen alten Bäumen kleine Teiche. Der Gebirgszug schien in der klaren Morgenluft unmittelbar hinter der Stadt zu beginnen.
Sie zeigte ihm das Bad und zog sich zurück. Als er geduscht und sein letztes frisches T-Shirt angezogen hatte, fand er sie in der Küche. Auf der Arbeitsfläche stand ein reichverzierter alter Samowar neben einer modernen Espressomaschine. Irina bot ihm Brot und Marmelade an. Sie lächelte entschuldigend. Ein Grübchen zeigte sich auf ihrer linken Wange und gab ihrem Gesicht eine interessante Asymmetrie. »Ich bin selten zu Hause, darum habe ich immer nur das Nötigste da.« Sie hatte die Jacke ausgezogen, trug ein Top, das ihre gebräunten Arme frei ließ.
Sie legte eine Mappe auf den Tisch, und während sie Teesud in ein Glas goss und heißes Wasser dazugab, kam sie zur Sache.
»Sie haben um zehn Uhr eine Verabredung mit Ihrer Tante. Drüben im Park. Sie ist bereit, mit Ihnen zu sprechen.«
Sascha schluckte. »Drüben im Park« und »Sie ist bereit, mit Ihnen zu sprechen«, das klang so distanziert, so gar nicht nach Tjotja Alja, wie er sie in Erinnerung hatte.
Irina schien seine Gedanken zu erraten und sagte: »Ihre Tante war mir gegenüber ausgesprochen misstrauisch. Sie wollte einen öffentlichen Platz, und ich habe ihr den Park vorgeschlagen.«
Sascha schluckte. »Weiß sie, warum ich hier bin? Ich meine … weiß sie, was mit Vika geschehen ist?«
»Nein. Ich habe ihr lediglich gesagt, dass ich sie in Ihrem Auftrag ausfindig gemacht habe und dass Sie sie gerne wiedersehen würden. Ich hatte den Eindruck, dass sie mir nicht so recht glaubte.«
Sascha betrachtete sie nachdenklich. »Was machen Sie eigentlich beruflich, und was haben Sie mit Reger zu tun?«
Irina lächelte. »Misstrauen scheint bei Ihnen in der Familie zu liegen. Reger kenne ich persönlich nicht, ich habe lediglich einmal mit ihm telefoniert.« Nach einer kurzen Pause ergänzte sie: »Er hat einen Freund kontaktiert, und der hat den Auftrag an mich weitergegeben.« Die Frage, was sie beruflich machte, beantwortete sie nicht.
Sie blickte auf einen alten Wecker, der neben der Spüle stand. Dann schob sie ihm einen Wohnungsschlüssel über den Tisch. »Sie müssen los. In der Mitte des Parks gibt es eine Holzbrücke. Ihre Tante wird dort sein.«
Er hätte sie nicht erkannt. Ihr Haar war von grauen Strähnen durchzogen, sie war noch rundlicher geworden, und in seiner Erinnerung war sie größer gewesen. Alja hingegen schien ihn sofort zu erkennen, kam zielstrebig auf ihn zu und blieb dicht vor ihm stehen. »Mein Saschenka. Du bist es wirklich«, sagte sie, hob ihre Hand und strich ihm vorsichtig über die Wange. »Du siehst aus wie dein Vater«, flüsterte sie, während ihr Tränen über die Wangen rollten, »so kräftig und groß wie Ossip.«
Sascha folgte seinem Impuls und drückte sie an sich.
»Die Zeit hat diese langersehnte Begegnung umgekehrt«, dachte er. »Wie habe ich mir vor achtzehn Jahren gewünscht, hierher zurückzukommen und auf diese Weise von ihr in die Arme genommen zu werden.«
Er ließ sie los. Sie wischte sich die immer neu aufsteigenden Tränen aus den Augenwinkeln und fragte aufgeregt: »Wo wohnst du? In einem Hotel? Nein, das geht aber nicht. Du musst mit zu mir kommen, Saschenka. Wo sind deine Sachen? Hast du Hunger? Komm, mein Junge, lass uns deine Sachen holen und zu mir fahren.«
Er küsste die kleine Frau auf die Stirn und strich ihr behutsam mit dem Handrücken über die Wange. »Hör zu, Tjotja. Das geht jetzt noch nicht. Lass uns
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