Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
erschrak.
Der Herbst war Warten. Domorow hatte keine Adresse hinterlassen. Lydia erntete, kochte das Obst ein und machte Gemüse in Essig- und Salzlaken haltbar. Aivars und die Kinder brachten sonntagabends die Gläser mit Marmeladen und eingelegtem Gemüse in ihren Rucksäcken mit nach Hause. Die Bäume wurden rot und gelb, dann braun und schließlich kahl. Sie machten die Datscha winterfest, und mit den ersten Frostnächten kam Lydia zurück in die Wohnung am Stadtrand.
Vier Monate waren vergangen, und Galina meinte schon, nie wieder etwas von Domorow zu hören.
Am 22. November saß Lydia mit einem Fremden in der Küche, als Galina von der Arbeit nach Hause kam. Auf dem Tisch standen Teetassen, Wodkagläser, und auf einem Teller dufteten frische, mit Quark gefüllte Piroggen.
Es war warm im Zimmer. Der Mann hatte seine Hemdsärmel bis zu den Ellbogen aufgekrempelt. Seine Unterarme zeigten großflächige Tätowierungen, und Galina wusste sofort, in wessen Auftrag er gekommen war. Er erhob sich, übergab ihr einen unbeschrifteten Umschlag und sagte: »Bitte lesen Sie. Ich warte.«
Verehrte Galina Petrowna,
ich habe Antip Petrowitsch Kurasch gefunden und muss berichten, dass sich die Geige nicht in seinem Besitz befindet. Er hat erklärt, dass die Verhaftung Ihres Mannes nicht den üblichen Weg gegangen ist. Es war ein Sondereinsatz, der direkt vom Ministerium für Staatssicherheit angeordnet worden war und als Geheimsache behandelt wurde. Die Geige wurde, kurz nachdem Ilja Wassiljewitsch aus der Lubjanka abtransportiert worden war, abgeholt. Kurasch bekam ein Jahr später die Anweisung, alle Unterlagen im Zusammenhang mit Ihrem Mann zu vernichten. Auch diese Anweisung kam direkt von einem Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit.
Es tut mir leid, Ihnen keine besseren Nachrichten überbringen zu können. Ich werde selbstverständlich, so wie ich es versprochen habe, weiterhin nach der Geige forschen und mich wieder melden. Kurasch ist tot. Das war ich Ilja Wassiljewitsch schuldig.
Ich bitte Sie, diesen Brief, sobald Sie ihn gelesen haben, dem Überbringer wieder auszuhändigen oder ihn vor seinen Augen zu verbrennen. Sollten Sie eine Nachricht für mich haben, geben Sie sie ihm.
Hochachtungsvoll
Sergei Sergejewitsch Domorow
Sie las den Brief mehrere Male, und die Sätze »Kurasch ist tot. Das war ich Ihrem Mann schuldig« hinterließen eine ungeahnte Genugtuung.
Sie schrieb Domorow einige Zeilen des Dankes und bat ihn, sich nach Iljas Mentor Professor Michail Meschenow zu erkundigen.
Zum letzten Mal habe ich Anfang 1950 von ihm gehört. Damals war er sehr krank, aber vielleicht hat er sich erholt und lebt noch. Näheres können Sie sicher am Tschaikowsky-Konservatorium erfahren.
Als sie dem Fremden die beiden Briefe aushändigte, zündete er Domorows Brief an und zerdrückte die Asche auf einem Teller. Dann zog er seinen Mantel an, steckte ihre Zeilen in die Brusttasche und verließ mit kurzem Gruß die Wohnung. Er hatte sich nicht vorgestellt und in der ganzen Zeit lediglich höflich gedankt, wenn Lydia ihm den Teller mit den Piroggen gereicht oder sein Glas mit Wodka nachgefüllt hatte.
Kuraschs Tod, so schien es ihr, verringerte ihre Schuld, ließ sie wieder freier atmen. Sie war zuversichtlich. Mit Domorows Hilfe würde sie es schaffen, Iljas letzten Wunsch zu erfüllen. Er würde die Geige finden. Keiner ihrer Söhne würde je ein großer Geiger werden. Sie waren inzwischen zehn und zwölf Jahre alt. Aber der eigentliche Wert der Stradivari war ihre Beweiskraft. Das Instrument würde belegen, dass Ilja das Land nie verlassen hatte.
Einige Tage später saß sie in der Fabrik an ihrer Nähmaschine. Es war kalt, und die Frostschäden in den Fingern, die sie sich in Karaganda in der Wäscherei und bei der Straßenarbeit zugezogen hatte, schmerzten wie in jedem Winter und machten sie steif und ungeschickt. Sie dachte daran, Aivars, der jetzt reisen durfte, zu bitten, nach Moskau zu fahren. Wochenlang beschäftigte sie sich mit dem Gedanken, ohne ihn auszusprechen.
An einem Februarabend standen sie in der Küche, und sie trug nach langem Zögern ihre Bitte vor. Die Worte tropften ihr von den Lippen, fielen zwischen ihnen auf den Küchenboden, und sie wusste augenblicklich, dass es ein Fehler war.
Er verzog schmerzvoll das Gesicht, als habe sie nach ihm geschlagen. Tränen traten ihm in die Augen, und er zog sie wortlos in die Arme, hielt sie fest, wie er es so oft getan hatte. Und doch war es
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