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Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Geiger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechtild Borrmann
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Schlüssel zu deren Schließfach. Die Gäste der Hotelbar sagen alle aus, dass Sie zu keinem Zeitpunkt mit Ihrer Schwester gesprochen haben, und der Barmann ist sich sicher, dass Vika Sie nicht kannte, Sie sie aber genau beobachtet hätten.«
    Sascha schluckte. Es vergingen einige wortlose Sekunden. Er sah, wie Vika ihren Blick durch die Bar schweifen ließ, wie ihre blauen Augen über ihn hinwegglitten. Der Barmann hatte ja recht. Sie hatten sich nicht gekannt. Nicht mehr.
    Er hörte Reger rufen: »Grenko, sind Sie noch dran?«
    »Sie müssen mir einen Gefallen tun. Es geht um den Leihwagen in Ingolstadt. Vika hatte mir mit dem Schließfachschlüssel auch einen Notizzettel zukommen lassen. Den habe ich im Handschuhfach zurückgelassen.« Er nannte den Autoverleih. »Wenn die Polizei den Zettel nicht hat, dann …«
    Reger fiel ihm ins Wort. »Ich kümmere mich darum.«
    Noch einmal setzte Sascha an. »Hören Sie, ich habe noch eine Bitte. Können Sie einen Dmitri Kalugin für mich überprüfen? Er ist freier Übersetzer und arbeitet für ein Büro in Köln.«
    Reger antwortete nicht sofort. Dann fragte er: »Was ist mit dem?«
    »Er war in Almaty, und so wie es aussieht, hat er das Treffen mit meiner Tante beobachtet. Irina Bukaskina hat … Hallo? Reger!«
    Die Verbindung war abgebrochen.

Kapitel 23
    D er Winter kam im September.
    Die Lastwagen mit den Lebensmitteln schafften es nur noch selten durch die vereiste, mit meterhohen Schneewehen bedeckte Tundra. Die Suppen im Lager wurden dünner, der morgendliche Brei wässriger, die Brotrationen kleiner. Der Hunger blieb auch nach dem Essen, und die Kälte schien sich in ihren Knochen einzunisten und sie nie zu verlassen.
    Schon im Oktober erfüllten die meisten Brigaden nicht mehr die vorgeschriebene Arbeitsleistung, und im November lag auch die Brigade von Juri Schermenko nur noch bei siebzig Prozent.
    Morgens ließ die Lagerleitung sie auf dem Appellplatz warten. Bei minus vierzig Grad hüpften sie auf der Stelle, schlugen die Arme an den Körper und rieben sich die Gesichter, um Erfrierungen zu verhindern, während vier Seki einen Weg zwischen Kommandantenbaracke und Appellplatz freischaufelten.
    Wenn der Kommandant endlich kam, beschimpfte er sie, nannte sie »Saboteure und faules Pack«, und Anfang Dezember verkündete er, dass die freien Sonntage bis auf einen freien Tag im Monat gestrichen seien.
    Die weiße kalte Stille, in der Himmel und Erde nahtlos ineinander übergingen, fraß jede Kontur, brachte eine Orientierungslosigkeit, die Ilja bis ins Mark erschütterte. Selbst die Erinnerung verlor sich darin. Das Bild von Galina und den Kindern wurde blass, löste sich Stück für Stück auf.
    Am schlimmsten aber waren die plötzlich losbrechenden Stürme. Am 12. Januar waren sie nach zehn Stunden Arbeit auf dem Weg zurück ins Lager, als sich wieder einmal ein solcher Sturm zusammenbraute. Ilja hörte schon zwei, drei Minuten, bevor er sie erreichte, das ferne sphärische Sirren, das sich verdichtete und zu einem Grollen wurde.
    »Ein Sturm«, rief er. »Das Seil. Wir brauchen das Seil.«
    Kurze Zeit später wurde die Welt zu einer undurchdringlichen Wand, selbst oben und unten löste sich auf. Jeder Schritt führte ins Nichts. Gefrorener Schnee, hart wie Sandkörner, peitschte ihre Gesichter. Blind klammerten Seki und Wachleute sich an das Tau, um nicht verlorenzugehen. Loszulassen bedeutete den sicheren Tod, und schon oft hatten sie abends auf dem Appellplatz gestanden und einer hatte gefehlt. Neben Ilja, auf der anderen Seite des Seiles, ging Juri. Vor Ilja stapfte Domorow blind vorwärts.
    Ilja sah ihn fallen. Das Seil wurde nach unten gerissen, und er stolperte beinahe über den Mann. Instinktiv griff er nach unten, bekam Domorows Mantelkragen zu fassen und zerrte ihn mit sich. Er spürte, dass auch er, wenn er Domorow nicht losließe, das Seil verlieren würde. Juri schnappte nach Iljas Handgelenk, gab ihm Halt. Ilja verlor den Mantelkragen und dabei auch seinen Handschuh. Er sah Domorows Arm hilflos ausgestreckt, bekam den Ärmel zu fassen. Über mehrere Meter zog er ihn auf diese Weise mit sich. Mit letzter Kraft und einem fast unmenschlichen Schrei schaffte er es, den Mann hochzureißen und ihn zurück an das Seil zu ziehen.
    Der Sturm tobte eine weitere halbe Stunde, immer wieder sanken sie bis zur Hüfte in Schneewehen ein, und erst, als sie das Lager fast erreicht hatten, ließ das Brausen und Sirren nach, wurde es langsam still. Als sie an

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