Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
Versprechen wussten, sind ermordet worden«, sagte Sascha.
»Nicht von Sergei Domorow!«, antwortete sie mit erstaunlicher Gewissheit und fügte hinzu: »Was seinen Sohn Witali angeht …«, sie zog die Schultern hoch, »über ihn weiß ich nicht viel. Es heißt, dass auch er ein Wor w sakone ist, aber man hört auch, dass ihr Ehrenkodex in den neunziger Jahren gelitten hat. Heute gibt es Mitglieder, die mit Kinderprostitution und Drogenhandel ihre Geschäfte machen. Das wäre damals undenkbar gewesen.«
Sascha betrachtete sie aufmerksam. »Woher weißt du das alles?«
Sie wich seinem Blick aus und schwieg.
Auf dem Holzwürfel, der zwischen ihren Ledersesseln als Tischchen diente, standen die leeren Kaffeetassen. In einer schmalen Vase blühte eine einzelne weiße Calla. Alles schien zu warten. Ein junger Kellner in gestärktem weißen Hemd, dunkelroter Weste und passender Fliege kam und fragte, ob er noch etwas bringen könne. Und auch er reihte sich ein, auch er wartete.
Sascha bestellte zwei weitere Kaffee, und als der junge Mann gegangen war, beugte Irina sich vor.
»Domorow war fünfzehn Jahre in Lagern und hatte zuvor schon den größten Teil seiner Jugend in Gefängnissen verbracht. Er trug die tätowierten Sterne auf den Knien und über dem Herzen und damit die höchsten Auszeichnungen der Wory w sakone. Als er 1993 starb, kam seine Beerdigung einem Staatsbegräbnis gleich. Damals blühten in Moskau die Bandenkriege, fast täglich gab es irgendwo eine Schießerei. Zu Domorows Begräbnis kamen sie alle, versammelten sich friedlich, um ihm die letzte Ehre zu erweisen.«
Fast flüsternd fuhr sie fort. »Sascha, du glaubst, es geht hier nur um die Geige, aber da irrst du dich.« Mit dem Kinn deutete sie auf das Handy. »Witali Domorow wird sich melden. Darauf kannst du dich verlassen.«
Sie ging zum Fenster und blickte auf die Straße, wo Menschen mit gesenkten Köpfen vorbeieilten. Sie hatte das »Du«, das ihm ganz selbstverständlich herausgerutscht war, aufgenommen, und er mochte es, wie sie seinen Namen aussprach.
»Kann ich ihn sehen? Ich meine … den Brief, kann ich ihn sehen?«, fragte sie.
Sascha massierte seine Nasenwurzel und überlegte. Irina betrachtete ihn.
»Du misstraust mir.«
Er stutzte kurz und sagte dann: »Stimmt.«
Als er zu einer Erklärung ausholen wollte, fiepte sein Handy. Domorow meldete sich und ließ ihn kaum zu Wort kommen.
»Wo sind Sie?«
Sascha nannte das Hotel.
»Was wollen Sie?« Domorow klang fordernd und neugierig zugleich.
»Ihre Hilfe«, sagte Sascha aufrichtig.
Eine Pause entstand.
»Haben Sie den Brief?«
»Ja.«
Wieder Schweigen.
»Gut. Dann lasse ich Sie abholen. Sagen wir, um achtzehn Uhr. Bringen Sie den Brief mit.«
Dann legte Domorow auf.
Sie hatten noch eine Stunde Zeit. Sascha zog sich, ohne noch einmal auf Irinas Bemerkung einzugehen, auf sein Zimmer zurück und wählte Regers Nummer.
»Na endlich. Wo stecken Sie?«, begrüßte Reger ihn.
Sascha sagte, dass er bereits in Moskau sei, und fragte nach dem Stand der Ermittlungen in Deutschland.
»Verdammt! Wo in Moskau?«, fragte er ungehalten.
Sascha nannte ihm das Hotel.
»Hmm«, knurrte Reger, und dann sagte er: »Es gibt gute und schlechte Nachrichten. Sie gelten als flüchtig, aber die haben noch nicht raus, unter welchem Namen und wohin. Außerdem hat die Hotelangestellte aus dem Holiday Inn ihre Aussage revidiert. Sie sagt jetzt, dass es auch sein könne, dass Sie den anderen Mann verfolgt hätten.«
Sascha hörte den Klang von feinem Porzellan. Reger rührte Zucker in seine Teetasse.
»Jetzt die schlechten Nachrichten. Die haben Ihre Wohnung durchsucht.« Reger räusperte sich. »Kann da was anbrennen? Ich meine, haben Sie Daten, Programme oder Informationen …«
Sascha unterbrach ihn. »Nein! Meinen Laptop habe ich hier. Der Rechner in meiner Wohnung hat nur eine externe Festplatte, und die ist im Büro.«
Er hörte Reger erleichtert aufatmen. Einen Augenblick war es still in der Leitung. »Hören Sie, Grenko, man hat Ihre Fingerabdrücke in der Pension gefunden.«
»Ich bestreite doch auch gar nicht, dass ich da war.« Sascha schnaubte verächtlich. »Mann, die wissen doch, dass beide Frauen mit derselben Waffe erschossen wurden und ich nicht auf meine Schwester geschossen habe.«
»Ja, aber von dem Täter im Hotel haben sie gar nichts außer einer vagen Beschreibung. Sie hingegen konnten identifiziert werden, und Sie hatten nach dem Anschlag auf Ihre Schwester den
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