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Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Geiger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechtild Borrmann
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diesem Abend durchzählten, fehlten vier Seki und zwei Wachmänner. Sie standen da und nahmen es hin. Im Frühjahr, wenn der Schnee schmolz, würde man sie finden.
    Ilja schob seine fühllose linke Hand unter seinen Mantel, aber der Schmerz, der sich unweigerlich einstellte, wenn die Hand wieder durchblutet wurde, erreichte die aufgeplatzten Finger nicht.
    In der Essensbaracke aß er über seinen Napf gebeugt, nahm die anderen kaum wahr. Die Linke hielt er im Schoß unter dem Mantel. Die Fingergelenke waren angeschwollen, auf dem Handrücken bildeten sich rötliche Blasen. Er hatte diese Erfrierungen bei anderen Seki gesehen. Er hatte Zehen, Finger und Nasenspitzen aufplatzen und eitern sehen und immer gedacht: nicht meine Hand. Alles, aber nicht meine linke Hand.
    Die Fühllosigkeit seiner Finger schien sich auszubreiten, nahm ihn ganz in Besitz. Zittrig und ungeschickt führte er den Löffel mit der wässrigen Suppe zum Mund. Er wollte nicht denken!
    Er wollte nicht denken: Ich werde nicht mehr spielen. Nie mehr!
    Stas, der ihm gegenübersaß, bemerkte es zuerst. »Grenko, was ist? Was ist mit deiner Hand?«
    Ilja hörte ihn wie durch einen Nebel. Er blickte nicht auf, löffelte mechanisch den letzten Rest der Suppe. Er konnte die Hand nicht hervorholen, konnte ihren Anblick nicht ertragen.
    Juri griff nach seinem Arm, zog die Hand aus dem Mantel.
    Ilja sah nicht hin, schabte mit dem Löffel über den Boden des Napfes und führte den leeren Löffel wieder und wieder zum Mund.
    Aus den Augenwinkeln erblickte er die beiden Finger, die nicht schmerzten, die nicht mehr zu ihm gehörten. Juri rief etwas. Ilja sah Domorow auf den Tisch zukommen, und er dachte: Warum hab ich ihn nicht liegen lassen? Im gleichen Augenblick spürte er das Zucken seiner Schultern und ließ den Kopf auf den Tisch sinken. Später wusste er nicht, ob er geweint hatte, weil er nie mehr die Geige spielen würde oder weil er so gedacht hatte. Später wusste er nur, dass er in dem Augenblick verstanden hatte, dass nicht nur seine Hand endgültig zerstört war.
    Sie brachten ihn hinüber in die Krankenbaracke. Normalerweise hätte man ihm die Hand verbunden und ihn dann zurückgeschickt, aber Domorow verschwand, flüsterte mit dem Arzt und sagte dann: »Du bleibst hier!«
    Zum ersten Mal nach fast neun Monaten schlief er in einem sauberen Bett. Sosehr er sich danach gesehnt hatte, jetzt nahm er es kaum wahr. Eine Müdigkeit, eine tiefe, allumfassende Müdigkeit, ließ ihn stundenlang schlafen, aber die bodenlose Erschöpfung verließ ihn nicht mehr.
    Am dritten Tag amputierten sie ihm den kleinen Finger ganz und den Ringfinger bis zum zweiten Glied.
    Er durfte weitere vier Tage im Krankenrevier bleiben. Ein Privileg, von dem er wusste, dass er es Domorow zu verdanken hatte.
    Der kam jeden Abend vorbei und erkundigte sich. Am letzten Abend sagte er: »Ich schulde dir was, Ilja Wassiljewitsch. Sag mir, wenn ich was für dich tun kann.«

Kapitel 24
    A ivars hatte Galina in der Fabrik für zwei Tage krankgemeldet. Sie verbrachte diese Zeit mit dem Brief. Am dritten Tag ging sie wieder zur Arbeit, nähte mechanisch Hunderte von Ärmeln in graue Jacken. Abends hörte Aivars hilflos zu, wie sie sich die Schuld an Iljas Schicksal zusprach, sie Schicht für Schicht überstreifte, so wie man Kleidungsstücke anlegt.
    An den Sonntagen ging sie nicht mehr mit hinaus auf die Datscha, nahm stattdessen die Mappe mit den alten Fotos und Zeitungsartikeln zur Hand, um den Tag mit ihren Erinnerungen an Ilja zu füllen. Die stille, abwartende Geduld, mit der Aivars sie in Karaganda gewonnen hatte, schien sich jetzt zwischen ihnen auszubreiten, schaffte eine immer schwerer zu überwindende Distanz.
    Manchmal sagte er etwas in ihren Kummer hinein. »Galina, sie wollten ihn loswerden. Es war weder deine noch Ilja Wassiljewitschs Schuld.« Oder: »Er hatte einen Ausreiseantrag für euch gestellt. Das war ihnen Grund genug.« Und: »Du kannst es nicht ungeschehen machen. Du musst jetzt an deine Söhne denken.«
    Dann nickte sie, stimmte ihm mit dieser Kopfbewegung zu und schwieg.
    Erst mit Ende der Sommerferien, als Pawel und Ossip nach Hause kamen, verlor sich ihre Apathie. Hatte sie über all die Jahre mit den Jungen kaum über den Vater gesprochen, so saß sie jetzt stundenlang mit ihnen zusammen über die Fotos und Zeitungsausschnitte gebeugt und erzählte vom Vater und seinem Schicksal. Den Namen Kurasch sprach sie so hasserfüllt aus, dass selbst Aivars sich

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