Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
Irina eine Waffe? Hatte sie vom Fenster aus geschossen?
Der Wagen hielt in einer Seitenstraße, in der kleine Geschäfte sich aneinanderreihten. Sie betraten ein zweistöckiges Haus. Eine Neonreklame über dem Eingang kündigte einen Nachtclub an.
Eine schmale Treppe führte in den ersten Stock. Der Fahrer brachte sie in ein Zimmer, dessen Mittelpunkt ein großes Polsterbett war. Der Geruch von Anstrengung und Körperflüssigkeiten lag in der Luft. An der Wand gegenüber gab es ein Waschbecken mit Spiegel.
Der Fahrer blieb in der Tür stehen.
»Verlassen Sie das Zimmer nicht«, sagte er.
Sascha war hungrig und müde. »Was zu essen«, bat er. »Könnten wir was zu essen bekommen?«
Der Mann ging schweigend davon.
Irina schob die feinen Organzavorhänge auseinander und blickte auf die Straße.
Mit müder Stimme fragte Sascha: »Hast du geschossen?«
Irina drehte sich um. Ihr »Nein!« kam sofort. »Der Schütze stand in einem der Eingänge auf der anderen Straßenseite, aber ich habe ihn vom Fenster aus nicht erkennen können.«
»Und der andere, der auf uns geschossen hat … Hast du ihn erkennen können? War es der Mann aus dem Park in Almaty? War es Dmitri Kalugin?«
Sie atmete tief und schüttelte resigniert den Kopf. »Ich weiß es nicht. Er trug eine Schirmmütze. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen.«
Sascha setzte sich auf das Bett. »Schermenko«, sagte er. »Was ist mit dem? Und sag mir endlich, was du mit der ganzen Sache zu tun hast …«, er zögerte nur kurz, »ansonsten kannst du morgen früh nach Almaty zurückfliegen. Dann bist du raus.«
Irina setzte sich neben ihn.
»Der Brief beweist, dass Juri Schermenko in Workuta war und Domorow und er sich gekannt haben.«
Sascha schüttelte müde den Kopf.
»Und? Jetzt rede schon, wer ist dieser Schermenko?«
Irina hob beschwichtigend die Hände.
»Er war Offizier in der Roten Armee. Seine Einheit kämpfte in Polen, und sie sollten eine Brücke sprengen. Das gelang nicht. Schermenko sagte später aus, dass sie viel zu wenig Sprengstoff gehabt hätten, aber man verurteilte seine gesamte Einheit wegen Sabotage zu fünfzehn Jahren Arbeitslager. 1954, kurz nach Stalins Tod, kam Schermenko im Zuge einer Amnestie frei. Er wurde rehabilitiert und machte erneut Karriere in der Armee, war ab 1960 Inspekteur und kontrollierte die Armeebestände in der Ukraine. In den siebziger Jahren tauchten in Libyen Waffen, Fahrzeuge und Panzer auf, die zu den sowjetischen Armeebeständen gehörten und laut Schermenkos Militärbestandslisten in den Lagern und Fuhrparks in der Ukraine waren.«
Sie legte eine kleine Pause ein. Dann fuhr sie fort. »In all den Jahren war der alte Domorow regelmäßig in die Ukraine gereist, und es gab das Gerücht, dass er im Ausland ein großes Vermögen besaß. Schermenko hatte immer behauptet, dass er ausschließlich in einem Arbeitslager in Taischet gewesen sei und Domorow nicht kenne. Er wurde hingerichtet, und Domorow blieb unbehelligt. Der hatte wohl damals schon gute Kontakte, denn die entscheidenden Lagerunterlagen aus Workuta waren angeblich bei einem Feuer verlorengegangen.«
Sascha hörte aufmerksam zu. Als sie schwieg, sagte er: »Das ist dreißig Jahre her. Was spielt das noch für eine Rolle?«
Irina lachte. »Witali Domorow ist hier in Moskau ein einflussreicher Mann und vielen ein Dorn im Auge. Es gibt Leute im Kreml, die ihm gerne nachweisen würden, dass der Grundstock seines Vermögens mit dem Verkauf sowjetischen Eigentums verdient wurde und sein Vermögen somit Staatseigentum ist. Aber man geht zögerlich mit ihm um. Er ist gefürchtet.«
Der Fahrer kam zurück, stellte zwei McDonald’s-Tüten und zwei Flaschen Cola auf den Beistelltisch neben dem Bett. Irina fragte ihn nach seinem Namen und ob er über Nacht bleiben würde. »Kyrill«, sagte er kurz und verließ das Zimmer. Ob er bleiben würde, sagte er nicht.
Sie aßen Hamburger, und unmittelbar danach musste Sascha wohl vor Erschöpfung eingeschlafen sein. Als er aufwachte, lag er angezogen auf dem Bett. Mildes Tageslicht fiel ins Zimmer. Irina stand am Waschbecken und putzte sich die Zähne.
Der Schlaf hatte gutgetan. Er stand auf und ging ans Fenster. Der Volvo parkte immer noch vor dem Haus, oder vielleicht schon wieder. Kyrill, da war er sich sicher, würde nicht von seiner Seite weichen, solange Domorow den Originalbrief nicht in Händen hielt. Er drehte sich um und betrachtete Irina.
»Hat Reger dir den Brief gemailt?«
Irina spuckte Zahnpasta
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