Der Geist des Nasredin Effendi
ich die schönste Blume unter der Sonne. Und – o Allah – glückselig war ich, weil sie mich, den einfachen Chodscha, erhörte… Aber was rede ich da. Was weißt du armseliger Lenker eines Karrens… Und mein Herz wird nur wieder schwer, wenn meine Zunge sich ihrer erinnert, sie, die mir in der aufgehenden Sonne heute früh den letzten Blick zuwarf, bevor der Henker zuschlug. O Freund, den Schmerz kannst du nicht ermessen.« Nasreddin verstummte, faßte sich. »Warum willst du das wissen?« fragte er, und ein wenig von dem alten Mißtrauen regte sich in ihm.
Der andere schüttelte den Kopf. »Nur so«, sagte er. »Es ist nicht so wichtig. Aber – übertreibst du nicht ein wenig?« Er fragte es augenzwinkernd. »Der Henker schlug zu…, wo leben wir denn!« Als er sah, daß Nasreddin heftig entgegnen wollte, fügte er schnell hinzu: »Sag, Onkel, wie heißt du eigentlich?«
Nasreddin, schnell beruhigt, kniff ein Auge zu und antwortete nicht ohne Stolz: »Ich bin Nasreddin, der Chodscha!«
»Aha!« Der Mann sagte es so, daß es klang wie: Drum! Das dachte ich mir doch gleich!
»Wieso kannst du dir so etwas denken, wenn ich doch fremd bin in eurer Gegend?« Nasreddin richtete sich, aufmerksam geworden, auf. »Du kannst mich gar nicht kennen!«
Der Mann stutzte einen Augenblick, überlegte sichtlich angestrengt, sagte dann jedoch – und abermals stand Schalk in seinem Blick –: »Du irrst, warte!« Er lief zu dem Häuschen an dem Karren, stieg auf das Rad, beugte sich hinein, kramte. Wenig später sprang er herab, ein länglich zusammengedrücktes Papier in der Hand. Und er entfaltete es vor dem neugierig näher tretenden Nasreddin. Dann schlug er auf eine Abbildung auf der letzten Seite, die das gezeichnete Konterfei eines bärtigen Mannes zeigte. »Das bist du«, sagte er.
»Ich! Ha!« Nasreddin verzog das Gesicht. »Siehst du nicht, daß ich viel jünger bin?« Er nahm die Zeitung, betrachtete interessiert die Strichzeichnung.
»Das jedenfalls ist unser Nasreddin Effendi.«
»Effendi! Freilich bin ich ein Effendi. Jeder Chodscha ist ein Effendi. Aber merke dir, nicht jeder Effendi ein Chodscha.«
»Gewiß, gewiß…«
»Und – was habe ich da zu suchen?«
»Na, lies!«
»Ich kann diese fremde Sprache, die der Gebieter, für mich nicht begreifbar, so Hals über Kopf gestattet hat, nicht lesen.«
»Und was kannst du lesen, wenn du überhaupt kannst?«
»Na, hör mal!« Nasreddin brauste auf. »Ich kenne die Sprache, in der Allah sein Wort an die Gläubigen richtet, die Sprache des Korans, die die Menschen in meiner Heimat sprechen. Also, was steht da?«
»Es gibt viele Mißstände im Land…«
»Du sagst es!« unterbrach Nasreddin mit ausgeprägtem Kopfnicken.
»Und hier schreibt man, was Nasreddin Effendi, also du«, es klang ein wenig spöttisch, aber Nasreddin, voller Aufmerksamkeit, nahm es nicht wahr, »zu diesen Mißständen sagen würde. Man kennt deine kluge und scharfe Zunge.«
»So, kennt man… Aber ich habe nichts gesagt dazu. Versteh, der Gebieter nahm mich in Anspruch, und dann, nun ja, die letzten Wochen war ich verhindert.«
Der Mann kratzte sich am Kopf. »Weißt du, es gibt da bei der Zeitung…« Als er sah, daß Nasreddin bei dem Wort »Zeitung« verwirrt blickte, fuhr er fort: »Nun dort, wo dieses Papier bedr…, beschrieben wird, einen Mann oder auch eine Frau – eben Leute, die dich so gut zu kennen glauben, daß sie wissen, was du zu diesem oder jenem gesagt hättest, verstehst du?«
»Frauen auch?« fragte Nasreddin staunend.
»Ja natürlich, auch Frauen. Warum denn nicht?«
»Lies mir das vor!« Nasreddin tippte mit dem Finger auf den Zeitungsartikel.
»Du wirst es – vielleicht – nicht verstehen«, entgegnete der andere zögernd.
Nasreddin brauste auf: »Hat mich Allah etwa mit Dummheit geschlagen? Ich bin in meiner Heimat ein Chodscha, ein angesehener. Wohlhabende Leute vertrauen mir ihre Kinder an!«
»O ja, ich vergaß, entschuldige. Ich dachte nur, weil du die Leute nicht so kennst, du nicht von hier bist«, sagte der Mann besänftigend. Er befand sich sichtlich in Bedrängnis, begann den Artikel zu lesen, bemüht, ihm diesem irren Kauz – denn das stand bei ihm ganz fest, normal war dieser Mensch nicht – so verständlich wie möglich auch in eigenen Worten vorzutragen. »Im Kolchos – das ist so etwas Ähnliches wie ein Kischlak – ›Weißes Gold‹ sind in der Ernte Rückstände aufgetreten. Wie sich jetzt
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