Der Geist des Nasredin Effendi
seinen Esel auf der Weide umzupflocken – luden ihn die beiden, Mutter und Tochter, zum Tee unter dem Granatapfelbaum auf dem geräumigen Hof des Anwesens. Und mitten in der Unterhaltung über die Schafe und die Baumwolle wandte sich die Frau voll Nasreddin zu, ließ das Gesichtstuch, mit dem sie im Gespräch fast ständig ihre untere Gesichtshälfte, so als schäme sie sich, verdeckt gehalten hatte, sinken – oh, sie könnte mir schon gefallen, dachte Nasreddin – und fragte: »Genosse Anoraew… Nasreddin, gestatten Sie einer Unwürdigen eine Frage: Warum lernen Sie nicht das Schreiben? Verzeihen Sie, es geht mich nichts an, aber es schmerzt mich, wenn die jungen Leute Sie hänseln, abfällig über den Analphabeten sprechen. Sie brauchen das nicht…« Aber das letzte sagte sie leise, verlegen, sie sah von ihm weg und schob das Tuch wieder über den Mund. Ihre Augen blickten, als wundere sie sich über den Mut, der sie plötzlich überfallen hatte.
Nasreddins Herz machte fühlbar einen Hupfer. Nicht nur, weil er in diesem Augenblick erkannt hatte, daß sie eine Frau war, die ihm gefiel, eine Frau, von der man weiß, daß man Zärtlichkeiten mit ihr tauschen könnte, sondern weil sie gesagt hatte, daß es sie schmerzen würde, wenn man ihn hänselte. Wenn jemand einem gleichgültig ist, dann schmerzt es nicht, wenn ihm Unbill widerfährt. Nasreddin selbst hatte es bislang nicht als tragisch empfunden, wenn sich der eine oder andere über seine Leseunkundigkeit lustig machte. In der Gelassenheit eines Weisen hatte er sich darüber hinweggesetzt mit der unausgesprochenen Frage, ob der Spötter wohl all die klugen Bücher schon einmal auf einem Haufen gesehen haben mochte, die er, Nasreddin, studiert hatte. Sind ihm die Wunder der Sprache des Korans aufgegangen? Aber jetzt, da sie es sagte, empfand Nasreddin den Mangel, zudem – und das hatte er sich selbst schon einigemal vor Augen gehalten – ihm das Neue über die Kenntnis der Schrift natürlich schneller zugänglich sein würde.
»Ich kann lesen und schreiben, Gusal«, antwortete Nasreddin sanft. »Leider aber kann ich damit – mir unverständlich, daß der Herrscher das zuließ – hier nichts anfangen…«
»Onkelchen«, mahnte Sewara, »hier können wir das doch lassen. Wir akzeptieren doch auch Ihre Rolle – draußen.«
Nasreddin lächelte, und er konnte nicht vermeiden, daß es ein wenig traurig wirkte. Dann hob er achtunggebietend den Zeigefinger, sah sich suchend um, nahm einen weichen Stein auf und schrieb damit in schneller Folge auf die steinerne Fußbodenplatte Schriftzeichen, unzweifelhaft arabischer Herkunft.
Die beiden Frauen sahen ihm interessiert zu, blickten sich vielsagend und unsicher an. »Was schreibst du, Onkelchen?« fragte die Hundertzöpfige.
Nebenbei und stockend, als sei er in sein Werk vertieft, antwortete Nasreddin: »Al-fatiha, die Öffnende, die erste Sure des Korans, des Buches aller Bücher. Lob sei Allah, dem Weltenherrn, dem Erbarmer, dem Barmherzigen, dem König am Tag des Gerichts! Dir dienen wir und…« Mehr hatte er noch nicht geschrieben. Er schickte sich jedoch an, weitere Teile des Hofes mit seinen Zeichen zu bedecken.
»Lassen Sie es gut sein, Nasreddin«, rief Gusal und lachte. »Wir glauben Ihnen!«
»Kannst du auch – etwas Weltliches, ich meine etwas von heute, schreiben?« fragte Sewara ein wenig lauernd, als habe sie den Verdacht, daß er wie ein echter Analphabet zwar auswendig ein paar Sätze herschreiben könne, fest Eingeprägtes, daß ihm aber eine schöpferische Anwendung der Schrift verborgen bleibe.
Nasreddin durchschaute sie, nahm jedoch nicht übel, sondern machte einen neuen Ansatz und schrieb flott weiter.
»Was bedeutet das?« fragte nach einer Weile Sewara.
»Das heißt…«, und er war lächelnd aufgestanden, wies augenzwinkernd auf das Gekrakel: »Großmächtiger Allah, mache in deiner Gnade die Ungläubigen des Kolchos ›Neue Ernte‹ wenigstens sehend, zeige ihnen, daß Blume und Vogel, Welle und Wind, die nimmermehr werden sprechen können, uns in ihrer Schönheit und Kraft, in ihrer Erhabenheit immerwährend Großes zu sagen haben…«
Zuerst Sewara, dann Gusal, die Mutter, sahen beschämt zu Boden. »Verzeih, Nasreddin«, sagte Sewara nach einer Weile. »Es war dumm!«
Nasreddin schüttelte den Kopf. »Was der Mensch spricht, ist meist wie der Regen in der Wüste. Was er schreibt, ist der Bach, der See, das Köstlichste, das Wasser für alle zum Leben.
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