Der Geist des Nasredin Effendi
der Nase und einem dicken dunklen Zopf, der bis in das Boot hineinreichte. Sehr bald verschwand sie in der Biegung des Wasserlaufs, und die Schwimmer hatten sie vergessen. Nicht Nasreddin. Trotz der Brille und der geänderten Frisur glaubte er sich sicher: Sie befand sich auf seiner Spur. Und das beun ruhigte ihn, zumal er schon bereit gewesen wäre, die vorigen Begegnungen tatsächlich seiner Phantasie oder dem Zufall zuzuschreiben.
Er hatte Mühe, seine Nachdenklichkeit zu verbergen. Daß es ihm nicht gelungen war, bemerkte er an den prüfenden Blicken der Hundertzöpfigen, der Tochter Gusals.
Gusal war Nasreddin seit jenem ersten Abend, an dem er seinen Esel zu ihrem Haus führte, sympathisch. Scheu und ohne Gerede hatte sie ihm den Raum gewiesen – einen kleinen Verschlag am Haus mit einem beschädigten Dach –, hatte ihm gezeigt, wo noch altes Stroh lagerte, ihm bedeutet, daß er die Wiese, die zum Grundstück gehörte, als Weide nutzen könne. Das wenige, was er vom Innern des Hauses zu sehen bekam, machte einen gepflegten Eindruck, wenn es auch nicht von großen Reichtümern zeugte – wie sollte es auch. Was einen verwahrlosten Anschein erweckte, waren die äußeren baulichen Dinge, der Zaun, das Dach. Und das Lehmmauerwerk hätte an der einen oder anderen Stelle eine Ausbesserung vertragen. Ganz offensichtlich fehlte jemand, der zupackte.
Ja, und Sewara, die Hundertzöpfige? Ein prächtiges Mädchen, hübsch, sauber, gebildet. Das Mundwerk auf dem rechten Fleck, gewiß kein Nachteil.
Die Frau arbeitete im Schafstall, Sewara studierte in der Hauptstadt, das erste Semester. In den Ferien verdiente sie für die kleine Familie in der Baumwolle dazu. Das alles wußte Nasreddin und daß ihm beide sympathisch waren, Mutter und Tochter. Und weil zu der Familie kein Mann gehörte, nie gehört hatte – ja, wenn sie Witwe wäre –, lebten sie am Rande des Kischlaks, am Rande der Gesellschaft, gab sich mit der Mutter niemand ernsthaft ab. Die Tochter hatte sich durchgesetzt, war aber fast das ganze Jahr über nicht am Ort. Nur einen Augenblick dachte Nasreddin an die Warnung der Alten, daß man sich bald selbst beschützen müsse, wenn man sich mit den zu Beschützenden abgäbe. Aber – das mag im allgemeinen stimmen, hier jedoch konnte Allah nicht hartherzig sein, es nicht so meinen.
Diese noch ganz flüchtige Bekanntschaft also hielt Nasreddin, den Chodscha, am Ort, auch weil er fühlte, daß seine Sympathie erwidert wurde. Er freute sich morgens, wenn er die muntere Sewara sah, half nach, daß er in eine Reihe in ihrer Nähe geriet. Er hatte ihre Parteinahme in der Heuschreckenaffäre nicht vergessen, als sie annehmen mußte, daß er reingelegt werden sollte. Und wenn er auch bald wieder das Schlußlicht in seiner Reihe bildete, wenn sie zur Sammelstelle ging, mußte sie an ihm vorbei, und da gab es Gelegenheit für eine Bemerkung, einen kleinen Schwatz – manchmal auch zum Unmut des Brigadiers.
Natürlich blieb dies alles den anderen Pflückern nicht verborgen, und wer Mitglied des Kolchos war, wußte auch, daß, zwar ohne Nasreddins Zutun – aber was machte das schon –, der Esel im Haus der Gusal stand. Was Wunder, daß kleine Hänseleien und Anspielungen nicht ausblieben, die von Nasreddin und der Hundertzöpfigen erst recht gelassen hingenommen wurden. Dennoch hatten sie Einfluß auf sein Denken, auf seine Phantasie. Er begann das Ganze mit anderen, mit abwägenden Augen zu sehen und sich schließlich ganz im Inneren, und vor sich selbst nicht so recht eingestanden, die Frage zu stellen: Warum denn nicht? Wenn das mit den fünfhun dert Jahren stimmte, und er mußte es wohl glauben – obwohl er es nach wie vor nicht begriff –, dann stand er allein in der Welt. Von der Familie, den Schülern… Man müßte Glück haben, um auch nur noch eine Spur von ihnen zu entdecken. Darüber machte sich Nasreddin nichts vor. Dann war ihm auf seine indirekten Fragen hin erläutert worden, daß ein Besuch in Aksehir, geschweige denn eine Rückkehr nach dort so gut wie ausgeschlossen war. Das, so sagte man ihm, sei eine andere Welt, eine bedrohliche, gegen die sich das Land abgegrenzt habe. Also, was sollte es! Über kurz oder lang würde er sich entscheiden müssen, ob er sein Alter in Einsamkeit oder im Kreis von Angehörigen verbringen würde.
Mit der Zeit, und das bekräftigte Nasreddin in seinen Gedankengängen, verlor Gusal ein wenig von ihrer Scheu, und eines Nachmittags – er war gekommen, um
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