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Der Geist des Nasredin Effendi

Der Geist des Nasredin Effendi

Titel: Der Geist des Nasredin Effendi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kröger
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verschloß das Haus. Im letzten Augenblick warf sie noch einige der Pflöcke ins Auto.
    Die Frau neben Nasreddin schwieg.
     Nasreddin fühlte, daß ihre Geschichte zu Ende war. Wo aber blieb das deutliche, klärende Wort? Sie hatte es nicht ausgesprochen. Dabei wußte er genau, wie es lauten würde…
    Sie schwiegen.
     Dann sagte sie unsicher, und die Stimme klang rauh: »Das, Nasreddin, war die Geschichte, die ich dir erzählen wollte.«
    Und plötzlich wußte er, wie er sich im Augenblick zu verhalten hatte. Er drehte sich ihr halb zu, sah ihr ins Gesicht, das Erwartung, Furcht und ein wenig forschende Neugier aus drückte. »Es ist eine – interessante Geschichte«, sagte er und lächelte sie eigentümlich an. »Sie hat mir gut gefallen – und sie ist lehrreich. Ich werde viel über sie nachdenken, Anora.« Er faßte sie an den Schultern, sah sie an und schüttelte nachdrücklich den Kopf, als hätte sie etwas schrecklich Dummes gesagt. Dann ließ er sie los und lehnte sich wieder an die Mauer. »Einiges habe ich nicht verstanden – ich bin ein einfacher Mann –: was ein Computer ist oder eine Elektrode. Aber ich glaube, das ist nicht so wichtig. Allah hat mir den Kern deiner Geschichte gezeigt. Schade, daß es keine Frauen als Geschichtenerzähler gibt, oder vielleicht gut so – da bist du Scheherezade die Zweite aus Tausendundeiner Nacht…«
     Ihr Gesicht spiegelte grenzenloses Erstaunen. Wenn sie mit allem gerechnet hatte, nicht damit, daß er nun so reagierte. War es Gelassenheit, schwarzer Humor, oder spielte er nur den Gleichmütigen?
     Aber leicht war ihr auch zumute, leichter, als wenn er getobt, sie beschimpft oder sie gar stehengelassen hätte. Sie atmete hörbar aus und umhalste den Überraschten plötzlich. Sie legte den Kopf an seine Brust und sagte, und in den wenigen Worten lagen alle ausgestandenen Ängste und Zweifel, aller Lohn für die Mühsal: »Ich danke dir, Chodscha Nasreddin, danke dir von ganzem Herzen!« Sie löste sich von ihm, verwischte eine Träne und fügte gewollt leicht, beinahe heiter hinzu: »Wenn ich es nicht vorher schon gewußt hätte, jetzt wüßte ich es auf alle Fälle: Du bist Chodscha Nasreddin, den wir alle kennen und lieben.«
    Er quittierte wiederum nur mit einem Lächeln. Dann nahm er sie an die Hand und führte sie hinüber zur Grabkammer. »Ich würde gern einmal hineinsehen«, sagte er.
     »Das läßt sich machen«, antwortete sie. »Ich habe einen Ausweis, falls die Miliz kommt.«
     »Miliz…«, wiederholte er, ohne daß zum Ausdruck kam, was er meinte.
     Sie entfernten die Bretter und ließen sich hinunter. Es war finster, und sie benötigten mehrere Minuten, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen.
     Nasreddin hatte sich hingehockt an der Längsseite der Platte, die nunmehr wie ein sehr niedriger Tisch die Mitte der Kuppel einnahm, nachdem der gemauerte Sarkophag abgetragen worden war.
     Die Frau stand hinter Nasreddin in gebückter Haltung, weil das Gewölbe dort ein aufrechtes Stehen nicht zuließ.
     Hier also, dachte Nasreddin, haben wir nebeneinander geruht, fünfhundert Jahre lang, ungestört, im Tode vereint. Bis jene kamen und mich dir entrissen. Nilufar.
    Haben sie das?
     Sollten wir nicht in Allahs Reich sein, in paradiesischen Gefilden, wo Milch und Honig fließen? Meinetwegen auch beim Scheitan. Aber wo bin ich zu mir gekommen, nachdem der Henker das Schwert hat doch sausen lassen? Auf dem Basar in Chiwa, hineingepreßt in den Leib eines Gärtners – kein übler Bursche übrigens! Mit einem goldenen Zahn auch! Und wer hat es getan? Diese schöne Anora mit ihrem Com…, ist ja auch egal. Aber wenn Allah durch sie…?
    Und warum hat er mich fünfhundert Jahre schmoren lassen, hier auf diesem lehmigen Podest? Als Strafe für meine Sünden vielleicht. Und Nilufar, wo war sie in dieser Zeit? Ich denke, Allah ist gnädig, da hätte er uns gemeinsam die Strafe auferlegen und uns gleichzeitig erwecken lassen können.
     Nasreddin wußte nicht, was er von diesen Ungereimtheiten halten sollte. Eine Zeitspanne von fünfhundert Jahren hatte noch niemand übersprungen. Und wenn die Seele unabhängig von allen – wie sagte Anora? – magnetischen Strukturen und Wellen wäre? Dann würde ich jetzt dort und hier existieren. Und was ist, wenn ich abermals sterbe? Dann kann ich meiner ersten Seele sagen: Salam aleikum, alter Nasreddin. Du hast zu früh gelebt und zu kurz. Viel hat sich verändert, vieles, was du wolltest, ist wahr geworden. Deine

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