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Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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früher jemanden gekannt habe, werde man fast immer fündig.
    So sei er mit Hilfe seines Vaters auf einen alten Kaufmann gestoßen, der in der Schmates-Szene vor dem Zweiten Weltkrieg verkehrt habe.
    »In welcher Szene?«, fragte Natalie.
    »Entschuldigung«, sagte Roschewski, »Schmates heißt Stoff auf jiddisch, und die Stoff- und Kleiderhändler nannte man die Schmates-Mischpoche. Und der alte Katz,
mein Gewährsmann also, erinnerte sich, dass Seidenbaum noch vor dem Krieg nach Amerika auswanderte, 1938 oder 1939, mit einem der letzten möglichen Schiffe wahrscheinlich, weil er überzeugt war, dass Hitler die Schweiz erobern würde und dass es dann den Juden schlecht ginge, und er hat sein Geschäft verkauft.«
    »An Schwaller«, sagte Natalie, »das stand im Adressbuch.«
    »An Schwaller & Compagnie«, ergänzte Roschewski, »und die Compagnie hieß Gerster und ist die heutige Besitzerin von ›Best of‹. Und der Preis damals soll viel zu niedrig gewesen sein, da Seidenbaum angesichts der Umstände rasch verkaufen musste. Das haben die Käufer gemerkt und haben es ausgenutzt.«
    Feyn aber, so fuhr Roschewski fort, sei bekannt gewesen als fleißiger, zuverlässiger und gewissenhafter Schneider, der am Sabbat nie in der Synagoge fehlte, leider sei er vorzeitig an Tuberkulose gestorben, und der alte Katz, der damals ein junger Katz gewesen sei, hätte sogar ein Auge auf seine schöne Tochter Rebecca geworfen, die aber nach dem Tod ihrer Mutter nach London verschwunden sei und später dort geheiratet habe, auch einen Schmates-Kaufmann, und der alte Katz habe mit dem größten Vergnügen die Gelegenheit benützt, Rebeccas Adresse herauszufinden und sie sogar anzurufen, er hätte nicht viel mehr als einen Tag dazu gebraucht, eine alte Liebe, habe er ihm schmunzelnd gesagt, finde man immer wieder. Sie lebe jetzt verwitwet in einem kleinen Haus in Chelsea, habe einen Sohn in Amerika und eine Tochter in Israel und fünf Enkelkinder und einen Urenkel.

    Er, Roschewski, sei dann gestern beim Direktor vorstellig geworden, dem alten Gerster, dem Sohn des damaligen Käufers, habe ihm die Geschichte vom immer wiederkehrenden Fehlbetrag und von Natalies Rechnung erzählt und vorgeschlagen, er solle der Tochter des Isaac Feyn die 2220 Franken bezahlen, was dieser rundweg abgelehnt habe mit der Begründung, es bestehe ja wohl keinerlei Verpflichtung, nach so langer Zeit einen Betrag zu erstatten, dessen Begleichung Sache des vormaligen Besitzers gewesen sei. Beim Kauf eines Geschäftes werde ausdrücklich festgehalten, dass keine Ansprüche Dritter, sofern sie zur Zeit des Kaufes nicht bekannt und belegt sind, auf den neuen Besitzer übergehen, das sei schon damals so gewesen. Er habe den ganzen Lärm um die nachrichtenlosen Vermögen völlig übertrieben gefunden, da merke man einfach, dass die Juden eine Lobby hätten, aber er sei nicht der Meinung, dass jetzt auch noch er in irgendeine Wiedergutmachungsrührseligkeit verfallen sollte, davon hätten wir wirklich genug gehabt. Die Geschichte mit der alten Rechnung habe er vernommen, die hatte natürlich die Runde gemacht, aber das könne im Ernst nicht sein und sei wohl eher ein Problem einer etwas überdrehten Kundin als ihres Geschäfts, jedenfalls könnte sie so etwas auf keinen Fall beweisen, wenn es zu einer Gerichtssache käme. Selbst wenn die Rechnung echt wäre, hätte sie ja keine Zeugen dafür, dass sie diese dem Futter eines bei »Best of« gekauften Mantels entnommen habe. Und das mit dem Fehlbetrag sei einzig das Problem des Buchhalters, der im Übrigen wohl wisse, wie man so etwas unauffällig in der Bilanz unterbringe. Roschewski sei gleich klar geworden,
dass er mit seinem Vorschlag nicht die geringste Chance hatte, habe etwas von einer Geste gemurmelt, die er sich eben hätte vorstellen können, und sei nach Kurzem wieder draußen gestanden, und das sei also der gegenwärtige Stand der Dinge.
    Natalie war empört über den alten Geschäftsinhaber, der sie als überdrehte Kundin abtat, ohne sie überhaupt zu kennen.
    Roschewski gab zu bedenken, für jemanden, der mit beiden Beinen im Leben stehe, sei die Geschichte natürlich schon ein harter Brocken.
    Ach was, sagte Natalie, der alte Gerster stehe doch schon mit einem Bein im Grab und würde sich besser überlegen, was es in seinem Leben noch zu bereinigen gebe. Sie wisse jedenfalls, was sie mache. Sie werde am nächsten Wochenende nach London fliegen und der Tochter des Schneiders Feyn die 2220 Franken

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