Der Geisterfahrer
war dieser von einer großen Menschenmenge überflutet, und er sah von Weitem, dass die Verschalung, hinter der das Denkmal gestanden hatte, abgerissen war und die Statue schräg und verkohlt an einer Zementmischmaschine hing. Der Kopf, der am frühen Morgen noch aus den Brettern herausgeschaut hatte, war weg.
»Was ist passiert?«, fragte er einen älteren Mann mit einer blauen Schürze.
»Sie haben uns das Denkmal gesprengt«, sagte dieser und schüttelte erbittert den Kopf.
»Ist jemand verletzt?«, fragte der Cellist.
»Ja«, sagte der Mann mit der blauen Schürze, »Walther von der Vogelweide.«
Und während die Polizei den Platz abzusperren begann, ging der Cellist ins Hotel Alpi zurück, holte sein Cello und seinen Koffer aus dem Zimmer und traf in der Halle seine drei Kollegen.
»Hast du gehört?«, sagten sie zu ihm, »da vorne wurde ein Denkmal gesprengt. Walther von der Vogelweide.«
»Wer tut denn so was?«, fragte der Cellist.
»Extremisten, Terroristen oder Faschisten, hat der Portier gesagt«, meinte der erste Geiger.
»Eine schöne Auswahl«, sagte der Cellist.
»Ja«, sagte der Bratschist, »ich bin froh, dass wir hier wegkommen.«
»Ich auch«, sagte der Cellist, und es war ihm unfassbar leicht zumute, als er in den 10.04-Zug einstieg und das Tal hinauf über den Brenner fuhr, nach Innsbruck, wo am selben Abend das nächste Konzert stattfand, mit Quartetten von Beethoven, Borodin und Bartók.
Billiges Notizpapier
E in Mann – solche Geschichten handeln meist von Männern, mit Vorliebe von alleinstehenden und älteren – ein Mann hatte die Gewohnheit, jedes Papier, das ihm in die Hand kam, daraufhin zu prüfen, ob es sich noch als Notizpapier gebrauchen ließe.
Dieser Mann war, entgegen der soeben geäußerten Vermutung, jünger, nämlich zwischen dreißig und vierzig, und er lebte auch nicht allein, sondern mit seiner Familie, das waren seine Frau und zwei schulpflichtige Mädchen. Er selbst arbeitete als Verwalter eines Bezirksspitals, tat aber daneben noch alles Mögliche, spielte Klarinette in einer Blasmusik, war in der Kirchenpflege als Quästor tätig, saß in der Vormundschaftsbehörde, war Mitglied des Alpenclubs, dessen örtliche Sektion er zeitweise präsidierte, leitete auch die kantonale Liga gegen Tuberkulose – er war also ein durch und durch brauchbarer Mann, der sich weder den Ansprüchen der Allgemeinheit noch denen seiner Familie verschloss, mit der er regelmäßig musizierte, Karten spielte und Wanderungen unternahm.
Er bekam bei all seinen Tätigkeiten ziemlich viel Post, und irgendeinmal hatte er damit begonnen, Blätter von hektografierten Mitteilungen aufzubewahren, um die Rückseite noch als Notizpapier zu brauchen. Bei der gro▫ Zahl solcher Mitteilungen, die er erhielt, wuchs dieser
Blätterhaufen rasch an, und er kam nun auf die Idee, die Blätter ihrem Falz nach zu schneiden, da er bemerkt hatte, dass der Bedarf an ganzen Blättern gar nicht so groß war, wohl aber derjenige an halben oder Viertelblättern, auf denen man zum Beispiel aufschreiben konnte, wohin man noch telefonieren musste oder was man besorgen wollte.
Seine Frau hatte für ihre Einkaufsnotizen lange Zeit eine Art Kalenderchen mit herzförmigen rosaroten Blättern verwendet, ein Geschenk ihres Patenkindes, und eines Tages, als die Blätter schon zu einem fingerdicken Häufchen zusammengeschrumpft waren, fand sie statt des Kalenderherzens in der Küche ein kleines, offenes Kartonschächtelchen, in welches auf der Vorderseite eine Vertiefung eingeschnitten war, die das Herausgreifen der darin aufgeschichteten Notizblätter erleichterte, Notizblätter in Viertelsgröße, die ihr Mann alle mit dem Brieföffner geschnitten hatte. Der Mann selbst stand neben diesem Schächtelchen und schaute sie Anerkennung heischend an. »Damit du besser aufschreiben kannst, was du brauchst«, sagte er und zeigte seiner Frau das oberste Blättchen, auf das er bereits das Wort »Pap.nastücher« geschrieben hatte. Das war etwas, das, wie er bemerkt hatte, im Haushalt gerade fehlte.
Man kann nicht sagen, dass die Frau besonders erfreut war über diese neue Einrichtung. Sie nahm das oberste Papierchen in die Hände und drehte es um, es war das untere rechte Viertel einer Einladung zur letztjährigen Generalversammlung des Alpenclubs, mit der vervielfältigten Unterschrift des Aktuars, eines Menschen, der ihr wegen seiner Vereinsmeierei zuwider war. Auch die Worte »Mit frohem Berggruß«, welche über der
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