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Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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glaubt daran, dass man ihn am Abend mit Trennscheiben aus einem Trümmerhaufen bergen muss, niemand kann sich den Knall vorstellen, mit dem ein Kind auf die Kühlerhaube prallt, und die Wucht, mit der es nachher durch die Luft gewirbelt und auf den Straßenboden geschleudert wird, niemand kann sich das vorstellen, niemand will sich das vorstellen, und wenn man es erlebt, ist es schon zu spät. Autofahren stumpft ab.
    Und doch ist ein Auto auch ein Innenraum, der zu erstaunlichen Stimmungen fähig ist. Oder haben Sie nie erlebt, wie gut man miteinander reden kann, wenn man etwa zu zweit in der Nacht von irgendwo nach Hause fährt? Die Dunkelheit ringsum, die Scheinwerfer, die von Zeit zu Zeit wie Leuchtfische entgegenkommen und wieder verschwinden, das regelmäßige Geräusch des Motors,
und man muss sich nicht in die Augen schauen beim Sprechen, wie im Zug, wo man sich unerbittlich gegenübersitzt, sondern man legt mit seinen Blicken zwei Parallelen, die sich nicht einmal im Unendlichen schneiden und ist sich doch zum Berühren nah, und plötzlich ist eine Atmosphäre da, die sehr menschlich und intim ist, eine Atmosphäre für Geständnisse, für Offenbarungen, für plötzliche Einsichten. Aber auch wenn man allein fährt, kann sich etwas Ähnliches einstellen, das Zusammenspiel von Bewegung und Monotonie auf einer langen Fahrt ist imstande, seltene Gefühle in einem zu wecken, Abenteuerlust, Frühlingshunger, die heimliche Bereitschaft, Unwahrscheinliches zu erleben.
    Wie anders soll man es sich erklären, dass es, seit es Autos gibt, auch Geschichten von merkwürdigen Autostoppern gibt? Sehr bekannt war lange Zeit in der ganzen Alpengegend die schwarze Frau. Das war eine Frau, die in schwarzen Kleidern an der Kurve einer Bergstraße stand und die Hand hob. Nahm man sie mit, setzte sie sich in den Fond des Wagens und sagte nichts, und wenn man sich nach einer Weile nach ihr umdrehte, war sie verschwunden. Schlimmer war es, wenn man beim Anblick der schwarzen Frau am Straßenrand dachte, die nehm ich nicht mit, und weiterfuhr, dann konnte es einem passieren, dass sie nach kurzer Zeit trotzdem hinten im Wagen saß.
    Kürzlich tauchte am Belchentunnel, der die Autobahn von Basel nach Süden unter dem Jura durchführt, eine weiße Frau auf, die von vielen Menschen gesehen wurde oder gesehen worden sein wollte, es wiederholten sich die
Geschichten mit dem Einsteigen und plötzlichen Verschwinden. Die Polizei äußerte sich zurückhaltend, einem Streifenwagen sei nie eine solche Figur begegnet, hieß es bloß.
    Zusammen mit der weißen Frau stiegen aber aus Gott weiß welchen Ritzen unseres gebirgigen Landes oder unserer unruhigen Seelen eine ganze Anzahl von Männern auf, die sich nun über die Straßen der Schweiz verteilten und ihre Hände erhoben, um die Autos anzuhalten, verschieden geartete Männer, alt und verwahrlost die einen, mit Kleidern aus dem vorigen Jahrhundert die andern, wieder andere elegant und mit weißen Haaren und einem schwarzen Mäppchen, und sie begnügten sich nicht damit, einzusteigen und nichts zu sagen, sondern sie zettelten Gespräche an und sagten Dinge voraus, einfache Dinge, gewiss, die aber für die Leute doch haarsträubend waren, weil die Mitfahrer danach verschwanden, vom Rücksitz verschwanden.
    Ob nun so etwas tatsächlich passiert oder ob es sich die Betroffenen nur einbilden, ist nebensächlich. Es wirkt jedenfalls, und wenn es nicht wahr ist, ist es doch wirklich. Deshalb habe ich auch von Anfang an nicht bezweifelt, dass an den Gerüchten über die Unfälle von Kestenholz etwas stimmen musste.
    Diese Unfälle gehörten zugleich zu den schlimmsten und unerklärlichsten im Lande, denn sie ereigneten sich alle auf einem der längsten geraden Stücke unseres Autobahnnetzes, kurz nach Egerkingen, auf der Höhe von Kestenholz, wo nichts die Sicht und die freie Fahrt stört, keine Brücke, keine Anzeigetafel, keine Ausfahrt, sondern
wo man mit einem geradezu kalifornischen Gefühl von Ruhe und Großzügigkeit durch die Ebene am Fuße des Juras fahren kann, in die große, weite Welt hinaus, wenigstens bis nach Oensingen.
    Wieso also kam es gerade dort immer wieder vor, dass Automobilisten, die sich auf der Überholspur befanden, unversehens von dieser Spur ausbrachen, entweder zurück in die rechte Spur oder in die Leitplanke des Mittelstreifens hinein? Diese Manöver endeten für den Lenker immer tödlich, und nicht nur für ihn allein, denn meistens war die rechte Spur besetzt, und es

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