Der Gejagte
die Luft zwischen den Zähnen einsog. Ihre Angst schlug ihm wie
eine körperlich fühlbare Woge entgegen.
»Julia«, rief nun auch Abu Dun. »Bist du verletzt?« Er eilte mit
drei, vier weit ausgreifenden Schritten auf sie zu. »So sag doch etwas.«
Julia krümmte sich noch weiter zusammen und ein gequältes
Wimmern kam über ihre Lippen. Der Vorhang aus Haar vor ihrem
Gesicht teilte sich, als sie mit einem entsetzten Ruck den Kopf in den
Nacken warf. Die Augen, aus denen sie Abu Dun anstarrte, waren
schwarz vor Furcht.
»Aber was…«, stammelte er hilflos, »was hast du? Hat er dich verletzt?«
Andrej ahnte, dass er die Antwort auf diese Frage bereits kannte.
Der Dämon hatte sie nicht verletzt. Seine Klinge hatte sie nicht einmal berührt und Abu Dun hatte ihn zur Seite gerissen, bevor er sein
Opfer erreichen konnte. Aber dass er ihren Körper nicht verletzt hatte, bedeutete keineswegs, dass er ihr keinen Schaden zugefügt hatte.
»Rühr mich nicht an!«, keuchte sie. »Komm nicht näher! Bleib…
bleib weg. Bleib weg von mir!«
Julia rutschte ein Stück weit von ihm fort, bis ihr Rücken gegen den
Türrahmen stieß, und versuchte, sich noch enger zusammenzukauern. Ihr Blick flackerte zwischen Abu Dun und Andrej hin und her
und das Entsetzen darin schien mit jedem Herzschlag noch weiter
zuzunehmen. Aber sie sah nicht in ihre Gesichter. Ihr Blick tastete
über ihre zerfetzten Kleider, über die Stelle, an der die Klinge des
Dämons Abu Duns Brust durchbohrt hatte, über Andrejs Wange, die
noch immer rot von seinem eigenen Blut, darunter aber vollkommen
unversehrt war. Andrej wusste mit unerschütterlicher Gewissheit,
dass, wenn der Dämon Julia auch nicht getötet hatte, sie doch für
Abu Dun für alle Zeit verloren war.
»Julia, ich kann dir das erklären«, sagte Abu Dun beschwörend.
»Ich weiß, wie es aussehen muss, aber es ist…«
»Geh weg«, wimmerte Julia. »Rühr mich nicht an! Geh… geh
fort.«
»Julia - bitte«, bettelte Abu Dun. Seine Stimme zitterte, als könne
der Nubier nur mit letzter Kraft die Tränen unterdrücken.
Betroffen wandte sich Andrej ab. Was der Dämon seinem Freund
und der jungen Frau angetan hatte, war schlimmer als der Tod.
Und genau das war seine Absicht gewesen.
»Wer… wer bist du?«, stammelte Julia. »Was bist du?«
Abu Dun senkte den Blick und drehte sich mit einem Ruck weg. Er
konnte nicht antworten.
An seiner Stelle fragte Andrej leise: »Würde es etwas ändern, wenn
du das wüsstest?«
Julia sagte nichts dazu - wozu auch? Andrej las die Antwort auf
seine Frage überdeutlich in ihren Augen. Obwohl er von der Sinnlosigkeit jedes weiteren Wortes überzeugt war, fuhr er leise fort: »Du
brauchst keine Angst vor uns zu haben, Julia. Abu Dun würde sich
eher in Stücke reißen lassen, bevor er zuließe, dass dir etwas geschieht. Und dasselbe gilt für mich. Wir sind gewiss nicht das, wofür
du uns hältst.«
Er bezweifelte, dass Julia die Worte hörte. Sie starrte ihn an, ohne
zu blinzeln. Andrej konnte ihr bodenloses Entsetzen fast mit Händen
greifen. Sie presste sich mit solcher Gewalt an die Wand, als versuche sie, sich in den Fugen des porösen Mauerwerks zu verkriechen.
Andrej blickte sie traurig an, dann drehte er sich mit einer müden
Bewegung um und trat an Abu Duns Seite. Der Nubier starrte ins
Nichts. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos und sein Blick war leer.
»Vielleicht sollten wir besser gehen«, sagte Andrej ruhig.
Abu Dun nickte. Andrej sah, dass er zu einer Antwort ansetzte,
doch alles, was von seinen Lippen kam, war ein kaum hörbares Seufzen.
»Wir sollten mit Sir Oliver sprechen«, fuhr Andrej fort. »Ich glaube, wir können ihm einen Vorschlag machen, den er nicht ablehnen
wird.«
23. Mai 1565, früher Morgen an den Kais der Werft
Ein leichter Morgendunst lag über dem Wasser und verriet schon
jetzt, wie heiß der kommende Tag werden würde. Ein modriger Geruch wehte von den Klippen her über den Hafen - Seetang, den das
Meer an der Flutlinie zurückgelassen hatte und der in der Hitze faulte. Obwohl sich die Männer Mühe gaben, leise zu reden und ihre
Arbeit möglichst geräuschlos zu verrichten, lag ein geschäftiges
Summen und Murmeln über dem weiten Hafenbecken.
Wenn man nach Osten sah und seinen Augen Gelegenheit gab, sich
an das gleißend vom Meer reflektierte Licht der gerade erst aufgegangenen Sonne zu gewöhnen, dann konnte man eine Anzahl großer,
gedrungener Schatten wahrnehmen, die wie geduldig
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