Der Gejagte
lauernde Raubtiere auf dem Meer zu hocken schienen: Schiffe und Boote, die die
Türken im Laufe der vergangenen Tage, vor allem aber der zurückliegenden Nacht, dort zusammengezogen hatten. Nicht einmal Andrejs scharfe Augen reichten aus, sie auf diese Entfernung und bei
dem ungünstigen Licht zu identifizieren, doch er wusste, dass es sich
um Suleimans größte und am schwersten bewaffnete Kriegsgaleeren
und Karacken handelte; Schiffe, die mit genügend Geschützen bestückt waren, um die Werftanlagen mit wenigen Salven zu zerstören.
Warum sie nicht längst damit begonnen hatten, war ihm ein Rätsel.
Andrej löste sich von dem unheimlichen Anblick und beantwortete
sich seine Frage selbst: Der Grund dafür waren die Forts St. Angelo
und St. Elmo, die sich auf dem weichen Kalkstein erhoben. Die Türken waren nicht die Einzigen, die über Geschütze verfügten. Die beiden Forts waren schwer genug bewaffnet, um jedes Schiff zu versenken, dessen Kapitän den Fehler beging, sich in den Feuerbereich ihrer Kanonen zu bewegen. Die Hafeneinfahrt war so flach, dass schon
ein einziges gesunkenes Schiff ein unüberwindliches Hindernis für
alle nachfolgenden bilden würde. Doch dieser Gedanke beruhigte
Andrej keineswegs. Die Forts mit ihren trutzigen Mauern boten einen
beeindruckenden Anblick, aber die Feuerkraft der Türken war gewaltig. St. Elmo und St. Angelo würden die feindliche Flotte Tage, mit
ein wenig Glück vielleicht sogar Wochen, aufhalten können, doch
letzten Endes war es nur eine Frage der Zeit, bis ihre Mauern unter
dem Bombardement der Türken fielen und der Weg nach Malta für
die Angreifer frei war.
Ein sonderbares Gefühl der Trauer überkam ihn, als er seinen Blick
über die hektischen Aktivitäten im Hafen schweifen ließ. Auf dem
fast unbewegt daliegenden Wasser war ein Dutzend flacher, langer
Ruderboote vertäut, auf denen sich Versorgungsgüter für St. Elmo
stapelten: Fässer mit Pulver, Pyramiden aus Kanonenkugeln, Säcke
und Ballen mit Lebensmitteln, große Stapel von gepökeltem Fleisch
und ganze Berge von Brot und getrocknetem Obst und Gemüse.
Andrej schätzte, dass sich allein in den wenigen Minuten, die Abu
Dun und er die Szenerie beobachtet hatten, an die hundert Männer
auf den Booten eingeschifft hatten. Zum größten Teil waren es Söldner in bunt zusammengewürfelten Uniformen, aber auch eine erstaunlich große Anzahl von Ordensrittern in schimmernden Rüstungen und roten Waffenröcken mit dem charakteristischen weißen
Kreuz. Eine mindestens noch einmal so große Schar von Männern
wartete noch darauf, an Bord der Boote zu gehen und nach St. Elmo
hinüberzurudern. Das Fort lag der türkischen Flotte am nächsten, und
das bedeutete, dass es als Erstes fallen würde. Er würde nur wenige
dieser Männer wieder sehen, vielleicht keinen einzigen.
Ein dumpfer, sonderbar weich anmutender Knall wehte vom offenen Meer herüber, fast unmittelbar gefolgt von einem dünnen und
rasch an Lautstärke gewinnenden Pfeifen, mit dem die Kanonenkugel
durch die Luft schnitt. Das Geschoss schlug weit vor der Küste ins
Meer und richtete keinen größeren Schaden an, als eine Wasserfontäne hochzuwirbeln und ein paar Fische zu erschrecken, und doch
war es, als hielte für einen Moment jeder einzelne Mann den Atem
an. Auch Andrej fuhr erschrocken herum und sein Herz schlug ein
wenig schneller. Die ganze Nacht über hatten die Türken diesen auf
den ersten Blick sinnlosen Beschuss fortgesetzt: Drei oder vier Mal
in der Stunde gab eines ihrer Schiffe einen Schuss ab, ohne dass die
Kanonenkugel der Insel auch nur nahe gekommen wäre. Doch was
die meisten Männer für reine Munitionsverschwendung halten mochten, ergab für ihn durchaus einen Sinn. Die Angreifer riefen sich auf
diese Weise in Erinnerung und sorgten dafür, dass keine Seele in den
Forts und der Stadt ihre Anwesenheit vergaß. Die Kugeln und das
Pulver, die sie dabei verschwendeten, mochten keinen wirklichen
Schaden anrichten, aber sie zermürbten die zu Untätigkeit und hilflosem Abwarten verurteilten Verteidiger vielleicht mehr, als es ein
Angriff gekonnt hätte.
»Da kommen sie«, sagte Abu Dun.
Andrej riss sich endgültig von dem niederschmetternden Anblick
der über zweihundert Männer los, die nicht nur sehenden Auges,
sondern noch dazu offensichtlich gut gelaunt und voller unbegreiflichen Siegesbewusstseins in den sicheren Tod marschierten, und
wandte sich in die Richtung, in die Abu Duns
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