Der Gejagte
Festungsturm erhob. Von dort erstreckte sich quer über die Hafeneinfahrt eine eiserne Kette aus armdicken Gliedern, stabil genug, selbst dem Angriff eines Kriegsschiffes standzuhalten. Diese Kette, die jeden Tag bei Sonnenuntergang
gehoben und bei Sonnenaufgang wieder auf den Grund des Hafenbeckens herabgesenkt wurde, hing eine knappe Armeslänge über der
Wasseroberfläche.
Nicht einmal das niedrige Fischerboot, in dem sie sich befanden,
hätte darunter hindurchschlüpfen können. Wenigstens nicht, ohne die
Aufmerksamkeit der Wachen zu erregen, die hinter den Zinnen des
Turms standen und nur auf einen Vorwand warteten, das tägliche
Einerlei mit ein paar gezielten Salven aus ihren Kanonen unterbrechen zu können…
Andrej stemmte sich unsicher in die Höhe, ließ sich aber nach einem warnenden Blick Abu Duns wieder auf Hände und Knie herabsinken und kroch auf die Bordwand zu. Seine Schwäche war nicht
nur geschauspielert, wie er mit einem Gefühl leisen Erschreckens
feststellte. Alles unterhalb der Stelle, an der der Speer des Janitscharen seine Brust durchschlagen hatte, fühlte sich taub und sonderbar
kalt an. Möglicherweise würde es noch Tage dauern, bis er sich vollkommen von seiner Verletzung erholt hatte. Und dabei konnte er nur
hoffen, dass er überhaupt wieder vollständig genesen würde.
Andrej ließ sich mit einem schweren Seufzen gegen die niedrige
Bordwand sinken und verdrehte den Hals, um zwischen den gewaltigen Kriegsschiffen hindurch einen Blick zur Hafenausfahrt werfen
zu können. Viel konnte er nicht erkennen, aber in diesem Moment
wehte der helle Klang einer kupfernen Glocke über das Wasser heran
- das Signal zur Freigabe der Hafenausfahrt.
Doch es verging noch eine geraume Weile, bis sich das Boot endlich in Bewegung setzen konnte. Obwohl es vernünftiger gewesen
wäre, zuerst den kleineren und wendigeren Booten der Fischer und
Händler das Verlassen des Hafens zu gestatten, hatten Kriegsschiffe
in diesen Tagen Priorität. Sie mussten sich in Geduld fassen, bis die
schwerfälligen Galeeren ihre Ruder ins Wasser getaucht und sich
langsam in Bewegung gesetzt hatten.
Andrejs Blick blieb an einer Galeasse hängen, die einen guten Teil
des Hafenbeckens für sich allein beanspruchte; einem jener gewaltigen Kriegsschiffe, die das Rückgrat der türkischen Flotte bildeten.
Bis sich dieser Koloss in Bewegung gesetzt und die Ausfahrt passiert
hatte, konnte noch eine gute halbe Stunde vergehen, schätzte er.
Nachdem alle Nachzügler der Kriegsflotte den Hafen verlassen hatten, waren endlich auch sie an der Reihe. Einer der drei Schmuggler,
denen sie ihr Leben anvertraut hatten, setzte das Segel. Das Boot
löste sich von seinem Liegeplatz und begann sich der Hafenausfahrt
zu nähern.
Andrejs Herz schlug schneller. Er musste die Finger fest um das
raue Holz der Bordwand schlingen, um ihr Zittern zu verbergen. Es
fiel ihm schwer zu glauben, dass sie es tatsächlich geschafft haben
sollten. Wieso suchte man sie nicht? Wieso war nicht die gesamte
Stadt und vor allem der Hafen abgeriegelt? Wieso wimmelte es nicht
überall von Soldaten, die jedes Schiff und jedes Haus durchkämmten?
Vielleicht, weil niemand von dem Vorfall von gestern wusste, flüsterte eine Stimme hinter seiner Stirn. Vielleicht hatten es sowohl der
Zeugmeister als auch die Soldaten, denen sie mit Mühe und Not entkommen waren, vorgezogen, den Zwischenfall anders darzustellen,
als er sich tatsächlich abgespielt hatte. Zwei verdächtig aussehende
Fremde, die sich der Kontrolle entzogen hatten und nach einer kurzen Verfolgungsjagd spurlos verschwunden waren - so etwas geschah in dieser Stadt wahrscheinlich jeden Tag (mit Ausnahme des Entkommens, vermutete Andrej).
Aber ein Spion, der in das Hauptarsenal hinein- und mit den kompletten Munitions- und Ausrüstungslisten der Invasionsflotte unter
dem Arm wieder herausspazierte… Unvorstellbar, dass der Offizier
den Vorfall wahrheitsgemäß gemeldet hatte. Es wäre wohl sein Todesurteil gewesen sowie das aller an der erfolglosen Verfolgungsjagd
Beteiligten. Das musste die Erklärung sein.
Das vage Gefühl, angestarrt zu werden, ließ Andrej den Kopf drehen und in das Gesicht eines der Schmuggler blicken. Ein finsteres,
von einer hässlichen Narbe entstelltes Gesicht mit winzigen, boshaften Augen, die ihn voller Misstrauen musterten, aber rasch wegsahen, als sie seinem Blick begegneten. Andrej dachte an das kleine,
schnelle Boot, das sie nicht allzu weit entfernt in
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