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Der Gejagte

Der Gejagte

Titel: Der Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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schweren Verletzungen und den
großen Blutverlust zu überwinden. War es da ein Wunder, dass ihn
sein Geist mit Halluzinationen und bösen Trugbildern narrte?
Das war die Erklärung. So musste es einfach sein - alles andere wäre zu entsetzlich und hätte die Grundfesten all dessen erschüttert,
woran er je geglaubt hatte. Es war unmöglich, dass auf der anderen
Seite nur dieser entsetzliche Abgrund aus Einsamkeit und Leere wartete.
Andrej schob den Gedanken mit einiger Mühe von sich und konzentrierte sich mit noch mehr Mühe auf seine augenblickliche Situation. Das beigefarbene Licht, das ihn umgab, war nicht gleichmäßig,
sondern von unterschiedlicher Tönung und Intensität. Der Boden, auf
dem er lag, bewegte sich sacht hin und her. Er registrierte ein Durcheinander unterschiedlicher gedämpfter Geräusche, die ihm verrieten,
dass er sich am Wasser befinden musste. Vermutlich eher auf dem
Wasser, wenn er den schwankenden Untergrund in Betracht zog.
Seine Gedanken bewegten sich so träge, als wäre er betrunken. Er
wusste weder, wo er war noch, wie er dorthin gekommen war, wenn
er auch ein paar Mal aus seiner Ohnmacht zurück in einen Dämmerzustand geglitten war, in dem er seine Umgebung schemenhaft
wahrgenommen hatte. Sie waren lange durch das uralte Kanalsystem
gefahren, das sich unter den Fundamenten Konstantinopels erstreckte, aber er konnte nicht sagen, ob die Fahrt Stunden oder vielleicht
auch Tage gedauert hatte. Er erinnerte sich an Kälte und Dunkelheit,
die sich mit der noch tieferen Dunkelheit und der grausameren Kälte
in seinen Gedanken zu verbinden trachteten. Abu Dun hatte ihn
schließlich aus dem Boot gehoben und zurück ans Tageslicht getragen. Aber wie sie in den Hafen und gar auf das Boot gekommen waren, wusste er nicht.
Andrej bewegte sich vorsichtig. Es ging besser, als er befürchtet
hatte, aber er empfand immer noch einen leichten Schmerz im Rücken. Ein Gefühl dumpfer Betäubung hatte die gesamte untere Hälfte
seines Körpers ergriffen. Ein neuer, entsetzlicher Gedanke stieg in
ihm auf: Was, wenn eine der Verletzungen, die er seinem Körper
immer wieder zumutete, einmal nicht mehr vollständig ausheilte?
Was, wenn er eines Tages entstellt sein Dasein fristen musste - zu
einem jämmerlichen Leben verurteilt, das Jahrhunderte, wenn nicht
gar Jahrtausende währen würde?
Er verscheuchte auch diesen Gedanken - ein weiteres Kapitel in
dem dicker werdenden Buch seiner Ängste -, öffnete die Augen und
hob vorsichtig die rechte Hand, um nach der Decke, die über seinem
Gesicht lag, zu greifen. Seine über rauen Stoff tastenden Fingerspitzen verrieten ihm, dass er in nasses, verwittertes Segeltuch eingehüllt
war. Jemand hatte ihn mit einer Plane zugedeckt; vielleicht, weil man
ihn für tot hielt. Aber wer?
Es gab nur eine Möglichkeit, die Antwort herauszufinden.
Andrej griff auch mit der anderen Hand nach oben und versuchte,
die Plane behutsam zur Seite zu ziehen. Offensichtlich stellte er sich
dabei nicht besonders geschickt an, denn schon im nächsten Moment
erhielt er einen derben Stoß in die Seite und eine leise Stimme warnte ihn:
»Nicht so auffällig! Rühr dich nicht! Ich komme gleich zu dir.«
Er war nicht sicher - es war schwer, eine Stimme zu erkennen, die
in gehetztem Flüsterton sprach - aber er glaubte zumindest, sie als
die Abu Duns ausgemacht zu haben. Also ließ er sich zurücksinken
und fasste sich in Geduld. Schließlich hörte er Schritte auf den hallenden Planken. Dann fiel ein Schatten über die Plane und der Stoff
wurde zurückgeschlagen. Das Gesicht, das darüber zum Vorschein
kam, wirkte übernächtigt und bleich, obwohl es pechschwarz war,
die Augen waren blutunterlaufen und von einer Mischung aus Sorge
und vorsichtiger Erleichterung erfüllt. Es war Abu Dun.
»Also doch«, stöhnte Andrej. »Na ja, irgendwann musste das ja
passieren.«
Abu Dun zog die Augenbrauen zusammen. »Was?«
»Ich bin in der Hölle, oder?«
»Bis jetzt noch nicht, aber bald, wenn du noch lauter sprichst«, sagte Abu Dun. Er senkte die Stimme noch weiter. »Ein Mann, der mit
dem Tod ringt, hat wohl kaum eine so kräftige Stimme, meinst du
nicht auch?« Er grinste flüchtig, wurde augenblicklich wieder ernst
und sprach laut weiter: »Bleib ganz ruhig liegen. Versuch nicht zu
reden. Ich hole dir Wasser.«
Andrej begriff. Die Worte galten offensichtlich nicht ihm, sondern
anderen Zuhörern. Wenn sie sich auf dem Boot befanden, auf dem
sie Konstantinopel

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