Der Gejagte
wie gefährlich es hier ist?«
»Auch nicht gefährlicher als in der Stadt«, antwortete Julia trotzig.
»Hierher kommt die Gefahr nur etwas eher.«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage«, erwiderte Andrej. »Wie
bist du hergekommen?«
»Ich bin die Frau eines Fischers«, erwiderte Julia in einem Ton, als
sei das Antwort genug. Sie hatte ihren Schrecken überwunden. In
ihren Augen flackerte immer noch diese Mischung aus Angst und
Hass, von der sich Andrej gar nicht vorzustellen wagte, wie sehr sie
Abu Dun schmerzen musste, traf sie doch ihn schon wie ein Schlag
ins Gesicht.
»Also gut«, sagte er, wobei er sich um einen merklich ruhigeren
Tonfall bemühte. »Und warum hast du all deine bisher verborgenen
Talente ausgenutzt, um hierher zu kommen?«
»Abu Dun hat mich herbestellt«, antwortete Julia, trotzig und entschuldigend zugleich.
»Das weiß ich«, erwiderte Andrej unwillig. »Aber warum?«
»Das hat mir der Mann nicht gesagt, der mir die Nachricht überbrachte«, antwortete Julia. »Nur dass Abu Dun mich hier sehen will,
um Mitternacht.« Sie zögerte einen Moment und setzte dann hinzu:
»Es hat mit… Pedro zu tun. Er hat gesagt, er müsse mir etwas über
Pedro mitteilen, das sehr wichtig sei. Ich soll hinaufkommen, auf den
Turm.«
Andrej schwieg. Er spürte, dass Julia ihm die Wahrheit sagte. Welchen Grund sollte sie auch haben, ihn zu belügen? Doch das ergab
alles überhaupt keinen Sinn. Es sei denn…
Nein! Das war unmöglich. Er sah Julia abschätzend an und schob
sich dann in dem schmalen Gang an ihr vorbei, um als Erster die
Treppe hinaufzugehen.
Schon nach der ersten Biegung fand er einen bewusstlosen Soldaten. Der Mann lag ausgestreckt auf den steinernen Stufen. Er hatte
nicht einmal Zeit gefunden, seine Waffe zu ziehen. Andrej beugte
sich über ihn und vergewisserte sich, dass er noch am Leben war.
Hinter ihm sog Julia erschrocken die Luft ein. »War das…?«, begann sie.
Andrej schnitt ihr mit einem Kopfschütteln das Wort ab.
»Nein«, sagte er. »Wäre es der Dämon gewesen, wäre der Mann
tot.«
Sie gingen weiter. Auf dem Weg nach oben fanden sie zwei weitere
bewusstlose Männer. Ein vierter lag reglos über der Klappe, die zur
Turmplattform hinaufführte, sodass es Andrej einige Mühe kostete,
sie zu öffnen.
Ein kühler Wind schlug ihnen entgegen und es war unerwartet hell.
An allen vier Ecken der von Zinnen gesäumten Plattform waren
Kohlebecken aufgestellt worden, die die Szenerie in ein unheimliches, düster-rotes Licht tauchten.
Andrej war mit einem einzigen Sprung auf der Plattform und zog in
der gleichen Bewegung seine Waffe, obwohl er genau wusste, wie
wenig ihm das genutzt hätte, wäre es tatsächlich ihr Widersacher
gewesen, der dort oben auf sie wartete. Er drehte sich einmal um die
eigene Achse, um nach einem eventuellen Hinterhalt Ausschau zu
halten.
Es war nicht der Dämon, der auf sie wartete. Eine riesige, vollkommen in Schwarz gekleidete Gestalt hockte am anderen Ende der
Plattform und ließ ein leises, amüsiertes Lachen hören, als er die
dramatische Art sah, auf die Andrej dort oben erschien. Neben dem
Nubier lehnten gleich zwei gewaltige Krummsäbel griffbereit an der
Mauer.
»Ich wusste, dass du nicht Wort hältst, Hexenmeister«, sagte Abu
Dun. »Es ist doch immer wieder schön, sich auf Freunde verlassen zu
können.«
Andrej wollte antworten, doch in diesem Moment erscholl hinter
ihm ein spitzer, entsetzter Schrei. Blitzartig fuhr er herum und hob
instinktiv sein Schwert, aber er sah keine Bedrohung, auf die er hätte
reagieren müssen. Es war Julia, die geschrien hatte - aber nicht, weil
sie angegriffen worden wäre. Der Blick ihrer weit aufgerissenen,
entsetzten Augen war starr auf etwas neben Abu Dun gerichtet. Als
Andrej abermals herumfuhr und in die gleiche Richtung sah, entfuhr
auch ihm ein überraschtes Keuchen.
Er sah erst jetzt, dass Abu Dun nicht allein auf der Turmplattform
war. Neben ihm stand eine zweite, kleinere und schmalere Gestalt.
»Pedro!«, schrie Julia. Dann stürmte sie los, stieß Andrej einfach
aus dem Weg und war mit drei, vier gewaltigen Sätzen bei dem Jungen, um ihn mit solcher Kraft in die Arme zu schließen, dass sie beide das Gleichgewicht verloren und haltlos gegen die Wand taumelten. »Pedro!«, rief sie immer wieder. »Gott im Himmel, Pedro! Du
lebst!«
Andrej starrte den Jungen fassungslos an. Sein Herz begann zu jagen, er spürte, wie seine Hände zitterten. Das war unmöglich. Er hatte
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