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Der Gejagte

Der Gejagte

Titel: Der Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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gesehen - sie alle hatten gesehen! - , dass der Junge tot war. Nicht
verletzt, nicht im Sterben liegend, sondern tot. Und doch stand er nun
vor ihnen und blickte seine Mutter aus dunklen, verwirrten Augen
an. Von der schrecklichen Wunde in seiner Kehle, die ihn beinahe
geköpft hätte, war nichts weiter zu sehen als vier dünne, parallel laufende weiße Linien, wie uralte Narben einer oberflächlichen Verletzung.
»Abu Dun«, murmelte er. »Was… was hast du getan?«
Der Nubier erhob sich mit einem Ruck von seinem Sitzplatz und
kam auf ihn zu. Ohne ein Wort legte er ihm seine Hand auf die
Schulter und drängte ihn mit deutlich mehr als sanfter Gewalt zum
anderen Ende der Plattform, wo er ihn derb gegen die Brüstung stieß.
»Das, was ich tun musste«, sagte er; grob, aber so leise, dass Julia die
Worte auf der anderen Seite des Turmes nicht hören konnte. »Was
ich ihr schuldig war.«
»Aber wie…«, fragte Andrej verwirrt. Seine Gedanken überschlugen sich. Blankes Entsetzen begann sich in ihm auszubreiten. »Wie
konntest du nur… ich meine… woher…?«
Abu Dun lachte bitter auf. »Ich hatte genügend Zeit, mich mit deinem Freund Romegas zu unterhalten«, sagte er. »Es ist gar nicht so
schwer, -weißt du? Ich wundere mich, dass du und ich nicht schon
längst von selbst auf die Idee gekommen sind.« Er lachte wieder.
»Dabei steht doch sogar in eurer Bibel: Geben ist seliger denn Nehmen. Heißt es nicht so?«
Andrejs Verstand weigerte sich zu begreifen, was Abu Dun meinte.
»Du… du hast…«
»Wenige Tropfen reichen bereits«, sagte Abu Dun kalt. »In diesem
Punkt hattest du Unrecht, Hexenmeister. Seit Unzeiten erzählst du
mir, die Sache mit dem Blut sei nur Humbug, nichts als ein barbarisches Zeremoniell, aber das stimmt nicht. Das Geheimnis liegt im
Blut. Es ist unser Blut, das uns unsterblich macht. Und andere auch,
wenn wir es ihnen geben. Wenigstens für eine Weile.«
»Und du hast…?«, keuchte Andrej fassungslos. Plötzlich sah er
wieder Romegas’ Gesicht vor sich. Den lodernden Wahnsinn in seinen Augen und den raschen, unerbittlichen Verfall, der mit diesem
bedauernswerten Mann vonstatten gegangen war. »Du hast diesem
Jungen…«
»Mein Blut gegeben, ja«, sagte Abu Dun. Sein Blick wurde hart.
»Und etwas von meinem Leben. Das seine wurde ihm um meinetwillen genommen. Hast du das vergessen?«
»Du… du hast ihn aber nicht zu einem… der unseren gemacht?«,
erkundigte sich Andrej fassungslos. »Er ist nicht…?«
»Wie wir?«, unterbrach ihn Abu Dun. Er schüttelte den Kopf.
»Nein. Noch nicht. Ich fürchte, ganz so einfach wird es nicht werden,
aber er lebt, das allein zählt.«
»Und das alles hat dir Romegas verraten?«, fragte Andrej. Er fand
seine Fassung allmählich wieder. Aber das Entsetzen wurde nicht
geringer. »In den wenigen Augenblicken, die du mit ihm gesprochen
hast?«
»Natürlich nicht«, antwortete Abu Dun. »Aber er war recht nützlich. Ich habe ihn gefragt, was der Dämon mit ihm getan hatte. Zu
Anfang wollte er nicht so recht mit der Sprache heraus, aber du
kennst mich ja. Ich kann mit Engelszungen reden, wenn es sein
muss.«
Andrej brachte ihn mit einem bösen Blick zum Verstummen. Es
gab Momente, da fand er Abu Duns Humor, der manchmal schwärzer war als sein Gesicht, höchst unangebracht, und dies war einer
dieser Momente. Abu Dun zuckte entschuldigend mit den Schultern
und fuhr in ernsterem Ton fort: »Er wusste tatsächlich nicht viel,
aber das eine oder andere hatte ich schon länger vermutet. Genau wie
du auch, nehme ich an. Und manches von dem, was diese Hexe damals mit mir angestellt hat, ergab plötzlich einen Sinn.«
»Die Puuri Dan?«, fragte Andrej.
»Ja. Wenn es wirklich so ist, wie du mir all die Jahre über einzureden versucht hast, und wir nicht Gottes auserwählte Kinder sind,
sondern nur die Träger einer üblen Krankheit, dann könnte es doch
auch sein, dass diese Krankheit ansteckend ist, oder? Und wie du
siehst, ist sie es.«
Wieder sah Andrej zu Julia und dem Jungen hin, bevor er antwortete. Was er erblickte, ließ ihm einen eisigen Schauer über den Rücken
laufen. Julia presste den Jungen noch immer mit solcher Kraft an
sich, dass er kaum Luft bekam, hatte das Gesicht an seiner Schulter
vergraben und weinte herzzerreißend, doch Pedro wirkte sonderbar
kalt, fast unberührt. Wenn auf seinem Gesicht überhaupt eine Regung zu erkennen war, dann wirkte er höchstens… verwirrt.
»Bist du wahnsinnig?«, fragte er

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