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Der Gejagte

Der Gejagte

Titel: Der Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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dass es lange dauern würde, bevor er diesen Mann vergessen haben würde. Vor langer
Zeit schon hatte er sich selbst verboten, Freundschaft zu einem Sterblichen zu entwickeln, und in diesem Moment wurde ihm schmerzlich
wieder ins Gedächtnis gerufen, warum.
Er drehte sich mit einem Ruck um und begann mit schnellen Schritten die schmalen Stufen hinaufzusteigen. Schon auf halbem Wege
wurde er angerufen. Obwohl er niemanden gehört oder gesehen hatte, war seine Gegenwart sehr wohl bemerkt worden, was für die
Wachsamkeit der Männer dort oben sprach. Er blieb stehen, beantwortete den Ruf auf Französisch und ging langsam und mit halb erhobenen Armen weiter. Er wurde kein zweites Mal aufgefordert,
stehen zu bleiben, aber er konnte die misstrauischen Blicke, die ihn vermutlich über die Läufe geladener Musketen hinweg - verfolgten,
spüren.
Erst als er oben angekommen war und das niedrige Seitentor des
Vorwerks vor ihm lag, sah er die Männer auch: Hinter den schmalen
Schießscharten glomm dunkelrotes Licht, weit genug abgedeckt, um
schon aus zwanzig Schritten Entfernung nicht mehr sichtbar zu sein
und somit gegnerischen Kanonieren oder Scharfschützen kein Ziel zu
bieten. Auch hinter den Zinnen darüber bewegten sich Schatten.
Mattgraues Licht brach sich auf den schimmernden Läufen der Musketen, die lautlos, aber präzise jeder seiner Bewegungen folgten. Eine winzige Klappe im Tor wurde geöffnet, als er näher trat, und ein
misstrauisches Augenpaar spähte zu ihm heraus. Andrej konnte die
Überraschung des Mannes spüren, als dieser ihn trotz seiner veränderten Kleidung und obwohl er sich den Bart abgenommen hatte,
erkannte.
»Chevalier Delãny?«, murmelte eine verwirrte Stimme.
Er wusste, dass ihm keine Zeit für lange Erklärungen blieb, deshalb
beließ er es bei einem Nicken, behielt die Hände aber weiter in
Schulterhöhe und blieb vollkommen reglos stehen, während er auf
das Scharren des schweren Riegels lauschte und wartete, bis sich die
Tür geöffnet hatte - nur einen Spalt breit, gerade weit genug, um hindurchschlüpfen und den schmalen, kaum sechs Fuß hohen Gang zu
betreten, der sich daran anschloss.
Ein halbes Dutzend Männer erwartete ihn, alle mit angelegten Waffen und alle ebenso überrascht und verblüfft wie der Soldat am Tor,
aber auch keinen Deut weniger misstrauisch.
Andrej unterdrückte mit Mühe den Impuls, den Blick zur Decke zu
wenden, in der in regelmäßigen Abständen kleine rechteckige Löcher
gähnten. Selbst wenn es einem Angreifer gelungen wäre, das Tor aus
handdicken Bohlen einzuschlagen und die Wachmannschaft zu überwältigen, würde der Weg durch den zwanzig Schritte langen
Gang für ihn zu einem Spießrutenlauf durch die Hölle werden, denn
diese Schächte dienten dazu, im Ernstfall geschmolzenes Pech oder
glühend heißen Sand auf jeden Eindringling herabregnen zu lassen,
und sie waren so angeordnet, dass es in diesem Tunnel keinen Fußbreit sicheren Boden gab.
»Chevalier Delãny?«, wiederholte der Posten und klang noch verwirrter als zuvor. »Euer Kommen wurde uns nicht angekündigt.«
»Es war auch nicht geplant«, antwortete Andrej in einem genau
bemessenen Tonfall, fast entschuldigend, aber auch ein wenig ungeduldig. Dieser Tonfall machte es den Männern völlig unmöglich, sich
nach seiner vermeintlichen Verkleidung zu erkundigen. Offensichtlich hatte sich sein neuer Status noch nicht herumgesprochen. Das
würde von Vorteil sein. »Ich muss hinauf auf den Turm«, sagte er.
»Sofort.«
Diesmal verfehlte sein Ton die beabsichtigte Wirkung. Der Mann
widersprach zwar nicht, zögerte aber sichtlich und tauschte dann einen verwirrt-fragenden Blick mit seinen Kameraden. »Davon… ist
uns nichts bekannt«, sagte er zögernd.
»Das ist mir klar«, entgegnete Andrej scharf. »Wäre uns Zeit
geblieben, Euch einen Boten zu schicken, hätten wir das sicher auch
getan. So habe ich diese Rolle gleich mit übernommen. Der Großmeister und Sir Oliver folgen mir in zwei Stunden. Ihr könnt Euch
dann bei ihnen beschweren.«
Er war überzeugt, den Bogen überspannt zu haben, denn etwas im
Blick des Mannes änderte sich. Er wirkte alles andere als eingeschüchtert. Dann aber verlor er den Kampf mit seinem eigenen Stolz
und senkte demonstrativ die Waffe, die bislang unverrückbar auf
Andrejs Brust gerichtet gewesen war. Seine Kameraden taten es ihm
gleich.
»Bitte verzeiht, Chevalier«, sagte er, »aber wir haben eindeutigen
Befehl…«
»Ich weiß«,

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