Der Gejagte
Alarmübungen mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen und auf ihre
Posten gescheucht.
Andrej spürte einen leisen Lufthauch auf dem Gesicht, der ihn jäh
aus seinen Gedanken riss. Die Tür zu seiner Kammer musste offen
stehen, aber er erinnerte sich ganz deutlich, sie am Abend hinter sich
zugezogen zu haben. Hatte er vergessen, den Riegel vorzulegen? Fast
ohne sein Zutun tastete seine Hand nach dem Schwert, das er griffbereit neben dem Bett an die Wand gelehnt hatte, aber er führte die
Bewegung nicht zu Ende, sondern schüttelte stattdessen mit einem
dünnen Lächeln den Kopf. Er war so allein, wie man es inmitten dieser überfüllten Festung nur sein konnte. Anscheinend machte sich
der Schlafmangel nun doch bemerkbar. Er begann nervös zu werden.
Was ihn zu der Frage brachte, was ihn geweckt haben mochte. Er
war nicht von selbst erwacht, auf jeden Fall nicht ohne Grund. Und
er spürte deutlich, dass er nicht wieder einschlafen würde.
Ebenso resigniert wie zornig auf sich selbst, streifte er die Decke
endgültig ab, schwang die Beine vom Bett, stützte die Ellbogen auf
den Knien ab und verbarg für einen Moment das Gesicht in den
Händen. Vielleicht war es sein schlechtes Gewissen, das ihn nicht
zur Ruhe kommen ließ. Er hatte sein Versprechen nicht eingehalten.
Julia und Abu Dun hatten am vergangenen Abend vergebens auf ihn
gewartet.
Andrej versuchte sich einzureden, dass er sein Versprechen nicht
hatte halten können. Wie er schon unten am Hafen befürchtet hatte,
war Romegas schnurstracks zu La Valette marschiert und hatte darauf bestanden, eine Versammlung des Ordensrates einzuberufen, um
über Andrejs angeblich verräterisches Benehmen zu urteilen. Zu dessen Glück hatten sich der Großmeister und sein Sekretär auch diesmal hinter ihn gestellt, sodass Andrej allen verleumderischen Behauptungen Romegas’ und seiner falschen Zeugen zum Trotz mit
einer scharfen Rüge davongekommen war, die vor dem versammelten Rat ausgesprochen wurde. Romegas war so wütend aus dem
Raum gestürmt, dass es einer Beleidigung gleichkam. La Valette
hatte Andrej hinterher noch einmal zu sich gerufen und ihm unter
vier Augen - sechs, um genau zu sein, denn auch Sir Starkey war bei
diesem Gespräch anwesend gewesen - nahe gelegt, den Bogen nicht
zu überspannen. Aber das war auch schon alles gewesen.
Den Rest des Tages hatte er mit dem zugebracht, was auch die anderen Mitglieder des Ordens, vom höchsten Würdenträger bis hin
zum niedrigsten Novizen, seit drei Wochen auf sich nahmen:
schweißtreibende Arbeit auf den Schanzen und Wehranlagen, anschließendem Drill und schier endlosen Gebeten. Es war fast Mitternacht gewesen, bevor er endlich in sein Quartier zurückkehrte.
Aber Andrej war sich auch darüber im Klaren, dass dies nur eine
Ausrede war. Hätte er es wirklich gewollt, wäre es ihm ein Leichtes
gewesen, für ein, zwei Stunden zu verschwinden, um sich von Abu
Dun und seiner Familie zu verabschieden. Die Wahrheit war so einfach wie bitter: Er hatte es nicht gewollt. Und er wusste selbst nicht
genau, warum. Vielleicht, weil er Angst davor hatte. Angst, Abu Dun
in die Augen zu sehen und noch einmal dieselbe Frage zu hören, auf
die er am Mittag schon keine Antwort gewusst hatte: Was bist du
diesen Männern schuldig? Er…
Das Geräusch war unendlich leise, selbst für seine übermenschlich
scharfen Sinne kaum mehr als die Ahnung eines Lautes, doch Andrej
fuhr trotzdem blitzartig herum und starrte mit weit aufgerissenen
Augen durch die Dunkelheit zu der Stelle, wo er die Tür wusste. Fast
im gleichen Augenblick spürte er es.
Er war nicht allein. Plötzlich wusste er, was ihn geweckt hatte. Kein
Geräusch, keine Erinnerungen, die ihn quälten, und auch nicht sein
schlechtes Gewissen. Jemand war dort draußen auf dem Gang, und
es war kein Mensch.
Lautlos stand Andrej auf, packte das Damaszenerschwert und gürtete es sich um, während er zur Tür schlich. All seine Sinne waren
zum Zerreißen gespannt, sowohl seine menschlichen als auch die des
Ungeheuers, das tief verborgen in ihm lauerte und mit einem unhörbaren Knurren bereits wieder an seinen Ketten zu zerren begann.
Dort draußen war ein Wesen wie er, ein Geschöpf der Nacht. Es war
die ganze Zeit über da gewesen, hatte ihn beobachtet, belauert, und
sich vorsichtig immer gerade außerhalb der Grenze gehalten, jenseits
derer er seine Anwesenheit bewusst wahrgenommen hätte.
Andrej erreichte die Tür, blieb stehen und
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