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Der Gejagte

Der Gejagte

Titel: Der Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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legte lauschend das Ohr
gegen das raue Holz. Er blendete die Geräusche seines Herzschlages
und seines eigenen Blutes aus und konzentrierte sich - aber da war
nichts. Wo auch immer der andere sein mochte, sofern er nicht den
Trick beherrschte, nicht nur den Atem anzuhalten, sondern auch sein
Herz am Schlagen und sein Blut am Fließen zu hindern, lauerte er
zumindest nicht auf der anderen Seite der Tür. Trotzdem öffnete
Andrej die schwere Holztür unendlich behutsam und zögerte auch
dann noch einmal, bevor er mit angehaltenem Atem auf den Gang
hinaustrat.
    Die Dunkelheit, die ihn umgab, war nicht ganz so vollkommen wie
die im Innern seiner Zelle. Zur Linken schwamm ein Fleck trübgrauer Helligkeit, wo der Korridor hinter einer Biegung auf den kleinen
Innenhof des Ordenshauses hinausführte. Und unter einer der Türen
zur Rechten, die den langen Gang auf beiden Seiten säumten, drang
flackernder Kerzenschein hervor.
    Andrej schloss die Augen und lauschte einen Moment, er hörte ein
monotones, müdes Murmeln: Einer seiner Ordensbrüder war dumm
genug, die wenigen kostbaren Augenblicke, die er hätte schlafen
können, im Gebet zu einem Gott zu verbringen, der sich vermutlich
einen Dreck um ihr Schicksal scherte.
    Nein, er war vollkommen allein. Konnte er sich so getäuscht haben?
Andrej dachte ganz ernsthaft über diese Möglichkeit nach und beantwortete die Frage mit einem klaren Nein. Er hatte die Gegenwart
eines anderen Vampyrs ebenso deutlich gespürt wie bei ihrer Flucht
aus dem Hafen von Konstantinopel, als die Sänfte auf der Kaimauer
erschienen war.
Dann überlegte er, ob es vielleicht Abu Dun sein konnte, verwarf
diesen Gedanken aber ebenso rasch wieder, wie er ihm gekommen
war. Er traute Abu Dun ohne weiteres zu, sich unbemerkt in die Festung zu schleichen, aber es hätte keinen Sinn gehabt, wäre sein
Freund dann unverrichteter Dinge wieder abgezogen, ohne ihm zu
sagen, was er zu sagen hatte.
Andrejs Beunruhigung stieg. Leise zog er das Schwert aus der
Scheide, wandte sich nach links, in Richtung des grauen Lichtfleckes, der ihm den Weg zum Hof wies, und ging los.
Irgendwo vor ihm… war etwas. Keine Bewegung. Kein Laut. Das
Ordenshaus lag wie ausgestorben da, nachdem das Murmeln des einsamen Beters hinter ihm verklungen war, und doch spürte er mit jedem Moment deutlicher, dass er nicht allein war.
Andrej erreichte die Abzweigung, lauschte und wandte sich dann
mit einer entschlossenen Bewegung nach rechts. Der Korridor führte
nach weiteren zehn oder zwölf Schritten auf den kleinen, an allen
Seiten ummauerten Innenhof des Ordenshauses hinaus. Für Andrejs
scharfe Augen wurden aus verschwommenen Schemen Umrisse, aus
kaum erkennbaren Schatten Linien und vertraute Formen. Es gab
einen einzelnen, dürren Olivenbaum inmitten eines steinigen Gartens, der schon seit Jahren keine Blätter oder Früchte mehr trug und
dessen kahle Äste sich wie eine trotzig geballte Faust in den Himmel
reckten.
Auch dort draußen rührte sich nichts, doch Andrej spürte nun überdeutlich die Präsenz eines anderen Unsterblichen. Mit angehaltenem
Atem trat er auf den Hof hinaus, geschickt jeden Schatten und jede
Deckung ausnutzend. Er lauschte auf das Flüstern in seinem Inneren,
anstatt sich auf die kümmerlichen Informationen zu verlassen, die
ihm seine Augen lieferten. Ohne ihn zu sehen, ohne ihn sehen zu müssen, wusste Andrej, dass der andere auf der gegenüberliegenden
Seite des Hofes stand, unsichtbar hinter einer der mannsdicken Säulen des Kreuzganges, der das gemauerte Geviert umgab. Ebenso
deutlich, wie er dessen Anwesenheit spürte, konnte er spüren, wie
mächtig dieser andere Vampyr war - ein Geschöpf, das ihm mindestens ebenbürtig, wenn nicht überlegen sein musste.
Andrej wurde bewusst, wie töricht er sich benahm. Wenn seine eigenen bescheidenen Kräfte schon ausreichten, sein unsichtbares Gegenüber zu spüren, wie deutlich musste dann erst dem anderen bewusst sein, wo er sich befand?
Einen Augenblick lang überlegte er, ob er den anderen einfach anrufen sollte. Bisher war er ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass er gekommen war, um ihn zu töten; so, wie ihm seit einem
halben Jahrhundert andere Vampyre nach dem Leben trachteten. Aber vielleicht stimmte das nicht, vielleicht gab es einen anderen
Grund für den Vampyr, hierher zu kommen.
Andrej erwog auch diesen Gedanken ernsthaft, verwarf ihn aber
gleich wieder. Das war nur Wunschdenken. Er war und blieb ein

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