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Der Gejagte

Der Gejagte

Titel: Der Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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hatten, ihre Häuser zu verteidigen. La Valettes Soldaten hatten ihren Widerstand ebenso brutal gebrochen, wie es
die Aufseher vorhin bei den Sklaven getan hatten. Andrej wusste
nicht, ob es Tote gegeben hatte, doch auf jeden Fall war Blut geflossen, das Blut von Christen, und das durch eben die Schwerter, die sie
doch eigentlich schützen sollten. Vielleicht kam Abu Duns bissige
Bemerkung über die Dummheit der Christen der Wahrheit näher, als
er, Andrej, sich bisher selbst eingestanden hatte.
»Wir verlassen die Stadt eine Stunde nach Sonnenuntergang«, sagte
Abu Dun plötzlich leise, nachdem er sich mit einem raschen Blick
nach rechts und links davon überzeugt hatte, dass sich niemand in
ihrer Hörweite befand. »Wir können nicht alles mitnehmen, was
noch in unserer Speisekammer ist, und bis wir zurückkommen, sind
die Vorräte längst verdorben. Deshalb wird Julia heute Abend noch
einmal ein Festmahl zubereiten. Ich hoffe doch, du bist unser Gast?«
Andrej zögerte. »Ich weiß nicht, ob…«
»… es deine Pflichten als Verteidiger des wahren Glaubens zulassen, im Haus eines Heiden zu speisen?«, unterbrach ihn Abu Dun
spöttisch. »Verdammt, Andrej, wach auf! Was willst du bei diesen
Leuten? Du bist ihnen nichts schuldig. Komm mit uns. In den Bergen
sind wir in Sicherheit. Und wenn nicht, dann besorgen wir uns ein
Boot und verlassen dieses ungastliche Stück Felsen. Lass sich diese
verrückten Ritter und die Truppen des Sultans gegenseitig die Schädel einschlagen. Was haben wir damit zu tun?«
Auf eine völlig widersinnige Art empörten Andrej diese Worte. Er
ertappte sich dabei, wie er Abu Dun in scharfem Ton zurechtweisen
wollte, doch dann wurde ihm im letzten Moment klar, was er im
Begriff stand zu tun. Statt den Nubier anzufahren, erschrak er so heftig über sich selbst, dass sein Herz zu klopfen begann. Mehr als alles,
was Abu Dun hätte sagen oder tun können, machte ihm seine eigene
Reaktion klar, wie Recht der Nubier mit seiner Warnung hatte. Großer Gott, er begann schon zu denken wie diese Männer.
»Ich werde kommen«, versprach er. »Und über deinen Vorschlag
nachdenken.«
18. Mai, kurz vor Sonnenaufgang im Ordenshaus der Johanniter
    Andrej erwachte schlagartig und ohne Erinnerung an seine Träume.
Sein Herz jagte. Die schäbigen Laken, auf denen er lag, waren nass
von kaltem, säuerlich riechendem Schweiß. Hinter seinen Augen lag
ein dumpfer Druck, als hätte er am vergangenen Abend zu viel Wein
getrunken. Dazu passte auch der schlechte Geschmack auf seiner
Zunge, obwohl er seit Wochen keinen Alkohol mehr angerührt hatte.
In seiner kleinen, mönchisch karg eingerichteten Kammer war es so
finster, dass selbst er kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Er
hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, obwohl ihm seine scharfen
Sinne zweifelsfrei verrieten, dass er allein war.
    Müde richtete sich Andrej auf der harten Pritsche auf, die nahezu
die gesamte Einrichtung seiner Zelle darstellte, streifte die dünne
Decke von den Schultern, unter der er komplett angezogen geschlafen hatte, wie es die Ritter seit Tagen taten, um bei Alarm sofort auf
ihre Posten eilen zu können, und wandte sich zu dem kaum handbreiten Fenster hoch oben in der Wand seiner Kammer um. Der Himmel
dahinter war noch dunkel. In der Nacht hatte es geregnet; die Wolken
hatten sich noch nicht verzogen und verbargen die Sterne. Trotzdem
spürte Andrej, dass es nicht mehr lange bis Sonnenaufgang sein
konnte. Vielleicht noch eine halbe Stunde, bevor die Dämmerung
hereinbrach und eine der zahllosen Glocken des Ordenshauses zum
Morgengebet rufen würde.
    Dennoch war es wohl das Klügste, sich wieder auszustrecken und
diese halbe Stunde zu schlafen. Schlaf war zu einem kostbaren Gut
geworden und würde noch wertvoller werden, sobald die türkische
Flotte am Horizont auftauchte. Andrej brauchte zwar nicht annähernd
so viel Schlaf wie die meisten anderen Männer, aber auch er musste
ab und zu schlafen und er hatte in den letzten drei Nächten nicht allzu viel Gelegenheit dazu gehabt. Ein weiterer Irrsinn, der aber zu
dem passte, was sich seit ihrer Rückkehr hier abspielte: Statt die
Kräfte ihrer Männer zu schonen, ließen La Valette und die anderen
Ordensfürsten die Soldaten tagsüber bis zum Umfallen schuften, um
die Verteidigungsanlagen auszubessern. Die wenigen kostbaren
Stunden, in denen die Sonne nicht erbarmungslos vom Himmel
brannte, mussten sie im Gebet verbringen oder wurden von

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