Der Gejagte
ragte.
Andrej ließ ihn, wo er war, stand mühsam auf und atmete tief ein.
In ihm heulte das Ungeheuer, zerrte vergeblich an seinen Fesseln und
brüllte lautlos seine Wut darüber hinaus, um die schon sicher geglaubte Beute betrogen worden zu sein. Ein Teil von ihm empfand
nichts als Bedauern, all diese Kraft verschwendet zu haben. Von allen Vampyren, die Andrej jemals getötet hatte, war dieser der mächtigste. Er war mächtiger gewesen als Abu Dun und er zusammen.
Andrej zweifelte keinen Moment daran, dass sie ihn ohne eine gute
Portion Glück nicht besiegt hätten. Hätte er diese Kraft seiner eigenen hinzugefügt, wäre er möglicherweise vollkommen unbesiegbar
geworden. Die Jahrzehnte der ruhelosen Flucht hätten ein Ende gehabt.
Aber vielleicht wäre er dann jetzt schon nicht mehr er selbst.
Mit hängenden Schultern drehte sich Andrej um und sah zu La Valette und Starkey hin. La Valette war ein Stück vom Kamin weggekrochen und hatte sich in eine halb sitzende Position an der Wand
aufgerichtet, gegen die er müde Hinterkopf und Schultern sinken
ließ. Starkey war neben ihm in die Hocke gegangen und kümmerte
sich um seinen Großmeister.
Von draußen waren Schreie zu hören, hastige Schritte, die näher
kamen. Irgendwo auf der anderen Seite der Burg begann eine Glocke
zu schlagen, doch es war nicht das Läuten, das zum Morgengebet
rief, sondern ein hektisches, schrilles Gebimmel.
»Seid Ihr verletzt, Herr?«, fragte Andrej. Seine Stimme klang in
seinen eigenen Ohren wie die eines Fremden. Müde und alt.
La Valette starrte ihn aus leeren Augen an. Andrej war nicht sicher,
ob er seine Frage überhaupt verstanden hatte. Er verspürte eine tiefe
Sorge um den alten Mann, die ihn selbst überraschte. Der Ordensmeister der Johanniter hatte ihm und Abu Dun Zuflucht gewährt,
wofür er sich ihm zu Dank verpflichtet fühlte, aber er hatte seine
Schulden im Lauf der vergangenen Jahre mehr als zurückgezahlt. La
Valette war sicher nicht sein Freund.
»Also doch«, murmelte der Großmeister nach einer Weile leise,
mehr zu sich selbst als an Andrej oder Starkey gewandt.
»Was?«, fragte Andrej alarmiert. Er tauschte einen raschen Blick
mit Abu Dun. Auch das Gesicht des Nubiers zeigte Beunruhigung.
La Valette streckte eine zitternde Hand aus, und sein Sekretär griff
rasch nach seinem Arm und half ihm auf die Füße. Der Großmeister
zitterte am ganzen Leib. Sein Gesicht war leichenblass, und als er
sich, schwer auf Starkeys Arm gestützt, zu einem der wenigen stehen
gebliebenen Stühle schleppte, sah Andrej, dass der Saum seines
Nachtgewandes angekohlt war.
»Ich hoffe, Euch ist nichts geschehen«, sagte er noch einmal. »Wie
es aussieht, sind wir gerade noch im richtigen Moment gekommen.«
Er bekam auch darauf keine Antwort. La Valette maß ihn nur mit
einem fassungslosen, aber auch nachdenklichen Blick, sah dann kurz
zu Abu Dun herüber und ließ sich schließlich schwer auf den Stuhl
sinken, zu dem Starkey ihn geführt hatte.
»Ich danke Euch, Chevalier de Delãny«, sagte er schließlich, »oder
wie immer Ihr auch heißen mögt.«
Andrej zog fragend die Augenbrauen zusammen. Er schwieg, aber
er konnte spüren, wie sich Abu Dun hinter ihm bereitmachte. Auf
Starkeys Gesicht war ein sonderbarer, fast lauernder Ausdruck erschienen.
Draußen auf dem Gang näherten sich immer schneller werdende
schwere Schritte und die keuchenden Atemzüge mehrerer Männer.
Andrej widerstand der Versuchung, einen raschen Blick zur Tür zu
werfen, aber er wusste, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb, um zu
verschwinden. Dennoch wandte er sich mit einem fragenden Blick an
La Valette. »Wovon sprecht Ihr, wenn ich fragen darf?«
La Valette kam nicht dazu zu antworten. Hinter Andrej ertönte ein
leises, scharrendes Geräusch. Abu Dun fuhr mit einer schlangengleichen Bewegung herum und riss seinen Säbel aus der Scheide. Auch
Andrej wirbelte auf dem Absatz herum und wurde mit einem ganz
und gar unglaublichen Anblick belohnt: Der Vampyr war nicht tot.
Taumelnd, die linke Hand, aus der noch immer der Dolchgriff ragte,
in einer wie beschützend aussehenden Geste gegen das Herz gepresst, stemmte er sich in die Höhe. Der Anblick war so grotesk, dass
Andrej für einen Moment einfach nicht begriff, was er da sah. Auch
Abu Dun stand mit offenem Mund und aufgerissenen Augen da und
starrte die hagere Gestalt in der zerfetzten Mönchskutte einfach nur
an.
Als sie ihre Überraschung endlich überwunden hatten, war es
Weitere Kostenlose Bücher