Der gelbe Tod
Aber meine Antwort war schneller als meine Gedanken, und jetzt, da es zu spät war, konnte ich lange darüber nachdenken, denn ich hatte sie auf den Mund geküßt.
An diesem Abend machte ich meinen gewohnten Spaziergang im Washington Park und grübelte über die Ereignisse des Tages. Ich trug eine schwere Verantwortung. Ich konnte nicht mehr zurück und mußte der Zukunft offen entgegensehen. Ich war nicht gut, nicht einmal verantwortungsvoll, aber ich hatte nicht die Absicht, mir oder Tessie etwas vorzumachen. Die einzige Leidenschaft meines Lebens lag in den sonnenhellen Wäldern der Bretagne begraben. War sie für immer begraben? Die Hoffnung rief: »Nein!« Drei Jahre lang hatte ich auf die Stimme der Hoffnung gehört, drei Jahre lang hatte ich auf einen Schritt auf meiner Türschwelle gewartet. Hatte Sylvia vergessen? »Nein!« rief die Hoffnung.
Ich sagte, daß ich nicht gut sei. Das ist wahr, aber ich war auch nicht der klassische Bösewicht. Ich hatte ein leichtfertiges, sorgloses Leben geführt und genommen, was sich mir an Vergnügen bot und die Folgen bedauert und manchmal sogar bitter bereut. Außer in meiner Malerei war ich nur in einer einzigen Sache ernsthaft, und das war etwas, das versteckt in den bretonischen Wäldern lag.
Es war zu spät, zu bedauern, was sich während des Tages zugetragen hatte. Was auch der Grund dafür gewesen sein mag. Mitleid, ein plötzliches Zartgefühl für den Kummer oder der niedrige Instinkt befriedigter Eitelkeit, das machte jetzt keinen Unterschied mehr, und wenn ich nicht ein unschuldiges Herz grausam verletzen wollte, lag mein Weg klar vor mir. Das Feuer und die Kraft, die Tiefe der Leidenschaft einer Liebe, die ich mit all meiner eingebildeten Erfahrung im Leben nicht einmal vermutet hatte, ließ mir keine andere Wahl, als sie zu erwidern oder das Mädchen fortzuschicken. War es, weil es mir so schwer fiel, einem anderen Schmerz zuzufügen oder weil ich nichts von einem freudlosen Puritaner an mir habe, ich weiß es nicht, aber ich schrak davor zurück, die Verantwortung für diesen unbedachten Kuß abzulehnen, und ich hatte in der Tat gar keine Zeit, das zu tun, bevor die Schleuse ihres Herzens sich öffnete und die Flut sich daraus ergoß. Andere, die ihre Pflicht gewohnheitsmäßig erfüllen und ein quälerisches Vergnügen daran haben, sich selbst und andere unglücklich zu machen, hätten dem vielleicht widerstehen können. Ich konnte es nicht. Ich wagte es nicht. Als der Sturm sich gelegt hatte, sagte ich ihr, daß es vielleicht besser für sie sei, sich in Ed Burke zu verlieben und einen Ring aus echtem Gold zu tragen, aber sie wollte nichts davon hören, und ich dachte bei mir, daß, wenn sie schon entschlossen war, jemanden zu lieben, den sie nicht heiraten konnte, es sicher besser war, sie liebte mich als einen anderen. Ich konnte sie zumindest mit verständnisvoller Zuneigung behandlen, und in dem Moment, in dem sie ihrer Verliebtheit müde würde, konnte sie gehen, ohne Schaden davonzutragen. Denn in diesem Punkt war ich entschlossen, obwohl ich wußte, wie schwer es sein würde. Mir fiel das übliche Ende platonischer Verbindungen ein und wie abgestoßen ich immer war, wenn ich von einer hörte. Ich wußte, welch ein schwieriges Unterfangen ich für einen so verantwortungslosen Menschen vorhatte, und ich fürchtete die Zukunft, aber ich hatte keine Sekunde Zweifel daran, daß sie bei mir in Sicherheit war. Wäre es eine andere als Tessie gewesen, hätte ich mich nicht mit Skrupeln herumgequält. Denn es kam mir nicht in den Sinn, Tessie zu opfern, so wie ich jede andere Frau geopfert hätte. Ich blickte der Zukunft ehrlich entgegen, und die verschiedenen möglichen Ausgänge der Affäre lagen vor mir. Sie würde entweder der ganzen Sache überdrüssig werden oder so unglücklich sein, daß ich sie entweder heiraten oder verlassen mußte. Wenn ich sie heiratete, würden wir unglücklich werden. Ich mit einer Frau, die nicht zu mir paßte, und sie mit einem Mann, der zu keiner Frau paßte. Denn mein hinter mir liegendes Leben gab mir kaum die Befähigung, zu heiraten. Wenn ich sie verließ, konte sie entweder krank werden, sich wieder erholen und irgendeinen Eddie Burke heiraten, oder sie konnte, unbedacht oder mit Absicht, hingehen und eine Dummheit begehen. Auf der anderen Seite würde, wenn sie meiner überdrüssig wurde, ihr ganzes Leben vor ihr liegen, mit großartigen Aussichten auf Eddie Burkes, Heiraten, Eheringe, Zwillinge und Appartements in
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