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Der gelbe Tod

Titel: Der gelbe Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert W. Chambers
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der Tat hat niemand je den Versuch gemacht, den zweiten Teil öffentlich zu diskutieren, also hatte ich absolut keine Kenntnis davon, was diese teuflischen Seiten enthüllen mochten. Ich starrte den giftig gemaserten Einband an wie eine Schlange.
    »Rühr es nicht an, Tessie«, sagte ich. »Komm herunter.«
    Natürlich genügte meine Ermahnung, ihre Neugier zu wecken, und bevor ich es verhindern konnte, nahm sie das Buch und tänzelte lachend damit ins Atelier hinüber. Ich lief ihr nach, aber sie entschlüpfte meinen hilflosen Händen mit einem aufreizenden Lächeln, und ich folgte ihr ein wenig ungeduldig.
    »Tessie!« rief ich und betrat die Bibliothek. »Hör zu, ich meine es ernst, leg dieses Buch weg. Ich möchte nicht, daß du es öffnest!« Die Bibliothek war leer. Ich ging in beide Zeichenzimmer, dann in das Schlafzimmer, Waschküche und Küche und kehrte dann in die Bibliothek zurück, um eine systematische Suche zu beginnen, Sie hatte sich so gut versteckt, daß es eine halbe Stunde dauerte, bis ich sie, bleich und still am vergitterten Fenster der Bodenkammer hockend, fand. Auf den ersten Blick sah ich, daß sie für ihre Vorwitzigkeit bestraft worden war. Der ›König in Gelb‹ lag zu ihren Füßen, und der zweite Teil des Buches war aufgeschlagen. Ich sah Tessie an und wußte, daß es zu spät war. Sie hatte den ›König in Gelb‹ aufgeschlagen. Ich nahm sie bei der Hand und führte sie ins Atelier. Sie schien benommen, und als ich ihr sagte, sie solle sich auf das Sofa legen, gehorchte sie mir wortlos. Nach einer Weile schloß sie die Augen, und ihr Atem ging regelmäßig und tief, aber ich konnte nicht sagen, ob sie schlief oder nicht. Lange Zeit saß ich schweigend neben ihr, aber sie rührte sich nicht, noch sprach sie, und schließlich erhob ich mich und begab mich zu der leerstehenden Bodenkammer, wo ich das Buch mit meiner weniger verletzten Hand aufhob. Es schien schwer wie Blei, aber ich trug es ins Atelier, setzte mich auf den Teppich neben dem Sofa und las es von Anfang bis Ende durch.
    Als ich, erschöpft vom Übermaß meiner Gefühle, das Buch weglegte und mich müde an das Sofa lehnte, öffnete Tessie die Augen und sah mich an.
    Wir unterhielten uns bereits eine ganze Weile mit dumpfer, monotoner Stimme, als ich bemerkte, daß wir über den ›König in Gelb‹ sprachen. Oh, diese Sünde, solche Worte niederzuschreiben – Worte, die klar sind wie Kristall, leicht und melodisch wie eine sprudelnde Quelle, Worte, die funkeln und glühen wie die vergifteten Diamanten der Medicis! Oh, diese Schlechtigkeit, die hoffnungslose Verdammtheit einer Seele, die menschliche Kreaturen mit solchen Worten fesseln und lähmen konnte – Worte, die ebenso vom Unwissenden wie vom Weisen verstanden wurden, Worte, die kostbarer sind als Juwelen, besänftigender als Musik, schrecklicher als der Tod!
    Ungeachtet der sich vereinigenden Schatten fuhren wir fort, zu reden, und sie bat mich, die Schnalle aus schwarzem Onyx mit der Einlegearbeit, von der wir jetzt wußten, daß es das Gelbe Zeichen war, fortzuwerfen. Ich werde nie erfahren, warum ich mich weigerte, obwohl ich selbst zu dieser Stunde, hier in meinem Schlafzimmer, während ich dieses Bekenntnis niederschreibe, glücklich wäre, zu wissen, was es war, das mich daran hinderte, das Gelbe Zeichen von meiner Brust zu reißen und ins Feuer zu werfen. Ich bin sicher, ich wollte es tun, und doch bat mich Tessie vergeblich. Die Nacht brach an, und die Stunden verflossen, aber noch immer flüsterten wir uns vom König und der Bleichen Maske, und Mitternacht schlug von den nebelverhüllten Kirchtürmen in der diesigen Stadt. Wir sprachen von Hastur und von Cassilda, während draußen der Nebel gegen die Fensterscheibe wallte, so wie die trüben Wellen an die Ufer von Hali rollen und brechen.
    Das Haus war jetzt sehr still, und kein Geräusch drang von den nebeldurchzogenen Straßen herauf. Tessie lag zwischen den Kissen, ihr Gesicht war ein grauer Fleck in der Dunkelheit, aber sie hatte ihre Hände in meine gelegt, und ich wußte, daß sie meine Gedanken kannte und las, so wie ich ihre, denn wir hatten das Geheimnis der Hyaden verstanden, und das Phantom der Wahrheit war aufgedeckt. Dann, als wir einander eilig und still Gedanken um Gedanken beantworteten, kamen die Schatten um uns in der Dunkelheit in Bewegung, und weit entfernt in den Straßen hörten wir ein Geräusch. Es kam immer näher, das dumpfe Knirschen von Rädern, näher und immer näher, und nun

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