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Der gelbe Tod

Titel: Der gelbe Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert W. Chambers
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Harlem, und der Himmel weiß, was noch alles. Als ich unter den Bäumen am Washington-Bogen hindurchschlenderte, beschloß ich, daß sie in mir einen aufrichtigen Freund finden sollte, und die Zukunft würde sich von selbst ergeben. Dann ging ich nach Hause und zog meinen Abendanzug an, denn die kleine, leicht parfümierte Nachricht auf meinem Ankleidetisch lautete: ›Halte um elf Uhr eine Kutsche am Bühnenausgang bereit‹, und die Nachricht war unterschrieben mit ›Edith Carmichael, Metropolitan Theater‹.
    Ich speiste an diesem Abend, oder besser gesagt, wir, Miss Carmichael und ich, speisten an diesem Abend bei Solari, und die Morgendämmerung stieg gerade herauf und vergoldete das Kreuz an der Gedächtniskirche, als ich auf den Washington-Platz trat, nachdem ich mich am Brunswick von Edith verabschiedet hatte. Es war keine Seele in dem Park zu sehen, als ich unter den Bäumen dahin ging und den Pfad einschlug, der von der Garibaldistatue zum Hamilton Appartementhaus führt, aber als ich den Kirchhof erreichte, sah ich eine Gestalt auf den Steintreppen sitzen. Unwillkürlich überlief mich ein Frösteln beim Anblick des weißen, aufgedunsenen Gesichts, und ich beeilte mich, ihn hinter mir zu lassen. Dann sagte er etwas, das ebenso gut an mich gerichtet sein konnte wie auch ein gemurmeltes Selbstgespräch, aber eine plötzliche wilde Wut stieg in mir hoch, daß eine solche Kreatur es wagte, mich anzusprechen. Eine Sekunde lang wollte ich auf dem Absatz kehrtmachen und ihm meinen Stock über den Schädel schlagen, aber ich setzte meinen Weg fort, betrat das Hamilton-Haus und ging zu meinem Appartement. Eine Zeitlang wälzte ich mich im Bett herum und versuchte, den Klang seiner Stimme aus meinen Ohren zu löschen, aber es gelang mir nicht. Das Gemurmel erfüllte meinen Kopf wie dicker, öliger Rauch aus einem Tranbottich oder der Gestank widerlicher Verwesung. Während ich so lag und mich herumwälzte, schien die Stimme in meiiten Ohren deutlicher zu werden, und ich begann die Worte zu verstehen, die er gemurmelt hatte. Sie stiegen langsam, wie aus tiefem Vergessen, herauf, und schließlich ergaben die Worte einen Sinn. Sie lauteten:
    »Hast du das Gelbe Zeichen gefunden?«
    »Hast du das Gelbe Zeichen gefunden?«
    »Hast du das Gelbe Zeichen gefunden?«
    Ich war wütend. Was meinte er damit? Dann drehte ich mich mit einem Fluch über ihn und seine Worte um und schlief ein, als ich jedoch später erwachte, sah ich bleich und verstört aus, denn ich hatte denselben Traum wie in der Nacht zuvor geträumt, und es beunruhigte mich mehr, als ich zugeben wollte.
    Ich kleidete mich an und ging hinunter in mein Atelier. Tessie saß am Fenster, aber als ich eintrat, erhob sie sich, legte ihre Arme um meinen Hals und gab mir einen unschuldigen Kuß. Sie sah so süß und niedlich aus, daß ich den Kuß erwiderte. Dann setzte ich mich an die Staffelei.
    »Nanu, wo ist die Studie, die ich gestern angefangen habe?« fragte ich.
    Tessie blickte mich vielsagend an, antwortete aber nicht. Ich begann, die aufgestapelten Bilder zu durchsuchen und sagte: »Beeil dich, Tess, und mach dich fertig, wir müssen das Morgenlicht ausnutzen.« Als ich schließlich die Suche unter den Bildern aufgab und mich umdrehte, um mich im Raum nach der fehlenden Studie umzusehen, bemerkte ich, daß Tessie noch immer angekleidet neben dem Wandschirm stand.
    »Was ist los?« fragte ich. »Fühlst du dich nicht wohl?«
    »Doch.«
    »Dann beeil dich.«
    »Willst du etwa, daß ich so posiere, wie – wie sonst?«
    Jetzt verstand ich. Das war eine neue Schwierigkeit. Ich hatte natürlich das beste Aktmodell verloren, das ich je gesehen hatte. Ich sah Tessie an. Ihr Gesicht war dunkelrot. Oh weh! wir hatten vom Baum der Erkenntnis gegessen, und das Paradies und die ursprüngliche Unschuld waren Träume der Vergangenheit – zumindest für sie.
    Ich vermute, sie bemerkte die Enttäuschung in meinem Gesicht, denn sie sagte: »Ich werde posieren, wenn du willst. Die Studie steht hinter dem Wandschirm hier. Ich habe sie dort hingebracht.«
    »Nein«, sagte ich, »wir werden etwas Neues beginnen«. Damit ging ich zu meiner Garderobe und nahm ein maurisches Kostüm heraus, das mit glitzerndem Flitter bedeckt war. Es war ein echtes Kostüm, und Tessie zog sich erfreut damit hinter den Wandschirm zurück. Als sie wieder hervorkam, war ich überrascht. Ihr langes, schwarzes Haar war über der Stirn von einem Türkisreif zusammengehalten, und die Enden lockten sich

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