Der Geliebte der Königsbraut: Historischer Roman (German Edition)
der anderen Seite der Kathedrale vorzusprechen, hielt Wittiges für wenig aussichtsreich. Lieber betrat er auf Rat der Mönche die Kirche selbst, um dort nach seinen Freunden zu suchen. Als er im Westwerk die schmale Treppe zum Parvis hinaufstieg, schlugen ihm Gestank und Geschrei entgegen. Zwei Männer prügelten sich, aber niemand scherte sich darum. Auf dünnen Strohsäcken lagen Kinder, Frauen, alte und junge Männer, Wittiges hatte den Eindruck, dass sich ganze Sippen von Unfreien und Landflüchtigen hierher ins Asyl gerettet hatten.
Noch nie hatte er so viel Elend und Schmutz gesehen, und was ihn besonders erschütterte, war dieser Streit unter Leuten, die doch das gleiche Schicksal teilten. Ein ganz und gar unheiliger Ort. Weder Pontus noch Alexander würden es hier länger als einen Atemzug aushalten. Lieber würden die beiden auf offener Straße kampieren als sich diesem Schrecken auszusetzen nur um einer kostenlosen Unterkunft und einer Mahlzeit wegen. Noch bevor er sich nach weiteren Pilgerhäusern erkundigte, beschlich ihn das Gefühl, seine Zeit zu verschwenden. Trotzdem klapperte er die Herbergen mit verzweifeltem Eifer eine nach der anderen ab.
Bei seiner Rückkehr war es Abend geworden, und wieder wartete Aletha voll banger Hoffnung auf ihn. Diesmal wusste auch sie keinen Rat mehr. Er hatte sich mit ihr in einen ruhigen Winkel zurückgezogen. Tränen standen in ihren Augen.
„Wollten sie denn in Reims eine Unterkunft suchen?“, fragte sie flehend. „Bist du sicher, dass sie sich hier aufhalten?“
„Ganz sicher“, antwortete er wider besseres Wissen. „Es gibt noch die Möglichkeit, dass sie ein Privatquartier gefunden haben. Sie wollten ja den Purpur verkaufen.“
„Sie haben den Purpur mitgenommen?“ Anscheinend wusste Aletha davon.
„Pontus hat ihn in Verwahrung.“
„Purpur und Geld“, bemerkte Aletha, und in ihrer Stimme schwang die Angst mit, die Wittiges selbst empfand. Ganz klar hatte er Bilder vor Augen, die er mühsam zwei Tage lang verdrängt hatte: eine Räuberbande, die aus den dichten Wäldern beiderseits der Straße hervorbrach, seine Freunde überfiel, ausraubte und ... Bilder voller Blut, in den Ohren dröhnte ihm Geschrei. Alexander war ein lausiger Kämpfer, aber Pontus hätte sicher länger Widerstand geleistet. So sehr er auch nachdachte, es gab keine andere Erklärung für die Unauffindbarkeit der beiden als ein Verbrechen.
„Sie waren allein, nicht wahr?“, bohrte Aletha nach.
„Ich hätte sie nicht allein reisen lassen sollen, das brauchst du mir nicht zu sagen, ich weiß es selbst. Diese Römerstraßen sind nicht mehr so sicher wie früher. Wenn den beiden etwas passiert ist ...“ Er schwieg. Die Schuldgefühle erdrückten ihn geradezu. Wieder einmal hatte er gründlich versagt.
„Vielleicht haben sie längst den Heimweg angetreten.“
„Nach Metz? Dann wären wir ihnen begegnet. Es gibt keine andere Straße als die, die wir genommen haben.“
Als sich Aletha wenig später zurückzog, hielt er sie nicht auf. Das Begehren, das ihn noch vor Kurzem in ihrer Gegenwart überkommen hatte, war verflogen. Während er sich nachts ruhelos hin- und herwälzte, tauchte im Halbschlaf ein neuer Gedanke auf. Früh am nächsten Morgen betrat er die königliche Kanzlei, einen großen, von Säulen gestützten Raum mit zarter Wandmalerei. Nur zwei verschlafene Schreiber hatten sich außer Wittiges bereits eingefunden. Beide wussten von nichts. Mittags traf sich Wittiges mit Aletha und unterrichtete sie mürrisch von seinem letzten Versuch, etwas herauszufinden und seinem Entschluss, bald möglichst zurück nach Metz aufzubrechen.
„Nein“, widersprach Aletha lebhaft und setzte sich über seine abweisende Miene hinweg, „wir suchen zusammen noch einmal die Kanzlei auf! Komm mit!“ Widerwillig folgte er ihr.
Diesmal herrschte große Geschäftigkeit. Und dann kam die große Überraschung.
„Wittiges? Du bist der Anstrustio Wittiges, dem das Land des verstorbenen Anstrustio Gozbert übertragen wurde?“, fragte der Kanzlist, den er ansprach.
„Hingerichtet worden ist er. Gozbert ist gepfählt worden, ich war dabei.“ Ein kräftiger Mann um die vierzig, der mit mehreren Schriftrollen unter dem Arm den Raum durchquerte, blieb stehen und musterte Wittiges aufmerksam. „Sah nicht schön aus, wie ihm der Holzpflock oben aus dem Hals ...“ Mit einem Blick auf Aletha verstummte er, räusperte sich und setzte noch einmal an. „Nun ja, die Vergangenheit kann
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