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Der Geliebte

Titel: Der Geliebte Kostenlos Bücher Online Lesen
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sprechen.«
    »Ich schon.«
    Er legte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Eine Weile blieb es still. Beim Atmen hob und senkte sich sein Brustkorb. »Meine Mutter war Leistungsschwimmerin. Mein Vater Wissenschaftler. Vielleicht hatte er auch irgendwas mit Marketing zu tun, ich weiß es nicht genau. Er hat im Silicon Valley gearbeitet.«
    »In Amerika?«
    »Ja.«
    »Ist deine Mutter Amerikanerin?«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein, sie kommt aus Bordeaux.«
    »Und dein Vater?«
    Er zuckte mit der Schulter. »Amerikaner, Kanadier, Mexikaner, Franzose, keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er da gearbeitet hat. Nicht mal, wie er heißt. Interessiert mich auch nicht.«
    »Wie haben sie sich kennengelernt?«
    »Meine Mutter ist für eine amerikanische Mannschaft an den Start gegangen, und seine Firma hat das Team gesponsert.«
    Es kostete mich große Mühe, ihn zu verstehen. Er sprach undeutlich und sehr leise.
    »Du hast deinen Vater nie kennengelernt?«, fragte ich.
    Er entgegnete irgendetwas, das ich nicht verstand. Vielleicht im Dialekt.
    »Was hast du gesagt?«
    »Ein Aufreißer, ein Charmeur … hat meine Mutter mir erzählt. Und dass er mir ähnlich sah. Darum hat sie mich auch gehasst. Sie war schwanger, aber der Typ war verheiratet und wollte nichts davon wissen.«
    »Und wo bist du zur Welt gekommen?«
    »In Bordeaux. Mit Kaiserschnitt, danach konnte sie nicht mehr richtig laufen. Eine Weile hat sie im Rollstuhl gesessen …« Ruckartig wandte er mir den Kopf zu. »Hör mal, ich mag darüber wirklich nicht sprechen.«
    »Ich möchte es aber gern wissen.«
    Das entsprach der Wahrheit. Es war das erste Mal, dass wir uns nicht nur oberflächlich unterhielten. Dass er etwas von sich selbst erzählte. Zum ersten Mal erfuhr ich ein paar Dinge aus seinem eigenen Munde statt um drei Ecken.
    Er rieb sich die Nase, sah mich aber immer noch nicht an. »Wegen mir saß meine Mutter also im Rollstuhl. Und als sie den wieder los war, hatte sie ein Kind am Hals, um das sie sich kümmern musste, und ihre Karriere war im Arsch. Mit dem Schwimmen war es vorbei, dabei war das vorher ihr Leben, ihr Ein und Alles gewesen. Von da an schlug sie sich irgendwie durch, mehr schlecht als recht, wurde dick, fraß sich halb zu Tode. Irgendwann hatte sie einen neuen Freund, einen Junkie, durch den sie an die Nadel kam. Ich glaube, sie wollte einfach nicht mehr leben.«
    Vorsichtig rückte ich ihm ein Stück näher und drehte mich auf die Seite. Es war herrlich, ihm zuzuhören. Ihm so nahe zu sein. Seiner Stimme zu lauschen. Ihn anzusehen. Am liebsten hätte ich mich bei ihm angeschmiegt, tat es aber nicht, weil ich fürchtete, dass er dann nicht mehr weiterreden würde.
    »Im Grunde musste ich selbst sehen, wie ich zurechtkam«, fuhr er fort. »Mit zwölf haben sie mich von zu Hause weggeholt und in ein Heim gesteckt. Ich hab allen möglichen Mist angestellt damals, mir war einfach alles egal.«
    In geräuschlosem Gleitflug zog eine Eule über uns hinweg.
    »Was denn für Mist?«
    Er zuckte mit der Schulter. »Nichts Besonderes. In Bordeaux läuft immer irgendwas.«
    Ich dachte an das Gespräch mit Betty. »Raubüberfälle?«
    Er sah mir in die Augen. »Nein. Obwohl nicht viel dazu gefehlt hat. Ich hab mich geprügelt, geklaut, Hasch geraucht, bin in Wohnungen eingebrochen, hab an der Flasche gehangen, an der Nadel, die ganze Palette. Ich war wütend auf meine Mutter, auf ihren Freund, auf die ganze beschissene Welt. … Das bin ich jetzt auch noch manchmal.«
    »Und wie bist du hier gelandet? Wie hast du Peter kennengelernt?«
    »Über Bruno, den kannte ich noch aus dem Jugendknast. Er hatte ein Zimmer in Libourne, und als ich raus kam, bin ich erst mal zu ihm gegangen. Ich hatte sonst niemanden. Bruno hat damals schon für Peter gearbeitet. Irgendwann bin ich mitgegangen, um auch was zu tun zu haben. Zu arbeiten. Geld zu verdienen. Was Nützliches zu machen.«
    »Und wo ist deine Mutter jetzt?«
    »Weiß nicht, interessiert mich auch nicht. Vielleicht ist sie tot. Dann hätte sie’s ja geschafft.«
    »Hast du sonst noch Verwandte?«
    Er sah mich an. »Die haben sich einen Dreck um uns gekümmert, verstehst du? Als meine Mutter in der Scheiße saß, hat niemand von denen auch nur den Finger krumm gemacht, weder für sie noch für mich. Ich habe quasi nie eine Familie gehabt, außer Peter und Bruno.«
    Ich brachte kein Wort mehr heraus. Michels familiärer Hintergrund war der traurigste, von dem ich je gehört hatte.

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