Der Geliebte
Bordeaux kein Stau gewesen wäre, hätten wir es locker geschafft. Ganz schönes Pech.«
»Kann uns denn niemand weiterhelfen? Ich meine, kannst du nicht irgendjemanden anrufen oder so? Das können die doch nicht machen, wir sind schließlich zwei Stunden hierhergefahren.«
»Zwecklos, da ist niemand. Vergiss es.«
Was jetzt? Zurück nach Hause? Das waren noch mal fast zwei Stunden. Und dann mussten wir ja doch wieder her. Sinnlos.
»Lass uns eine Kleinigkeit essen gehen«, hörte ich Michel sagen. »Ich hab sowieso schon Hunger.«
Als er sah, dass ich zögerte, fügte er hinzu: »Lass uns erst mal weiterfahren, nach Arcachon.«
Mechanisch tastete ich nach meinem Handy, um zu Hause anzurufen und Eric Bescheid zu sagen, dass unsere Rückkehr sich verzögern würde. Ich ließ das Telefon zehnmal klingeln, elfmal, zwölfmal. Nichts. Erics Mobiltelefon zu probieren hatte auch keinen Zweck. Das hing im Wohnwagen an der Steckdose, wie ich vorhin noch gesehen hatte.
»Rufst du zu Hause an?«
Ich nickte.
»Das hören die nicht, die sind oben mit den Balken zugange.«
Ich versuchte es noch einmal. Niemand ging ran.
»Ich versuch’s später noch mal.« Dann ließ ich den Wagen an.
Wir fanden einen freien Tisch unter der blauweißen Markise eines Restaurants namens Le Pirate, von dem aus man die Promenade, den Strand und das Meer sehen konnte. Die Speisekarte bot ein buntes Sammelsurium: Pizza, gekochte Muscheln, Crêpes, Hamburger, Salat mit exotischen Früchten und Mozzarella.
Für Oktober war es ziemlich voll, vor allem wimmelte es von Bordelais, wie Michel aus dem Akzent der Gäste schloss: Einwohner von Bordeaux, die Arcachon am Atlantik ebenso schätzen wie die Pariser ihr Deauville.
Michel musste es wissen, er war schließlich hier in der Gegend geboren und aufgewachsen. Ich wollte gern mehr darüber erfahren, aber er lenkte das Gespräch auf Themen, die mich im normalen Leben kaum interessierten (französische Dialekte, die anscheinend weniger stark voneinander abwichen als in den Niederlanden; Franzosen konnten einander landauf, landab verstehen), aber mich jetzt, da ich sie aus seinem Munde hörte, maßlos faszinierten. Michel hatte eine prächtige Stimme. Ein rollendes R und ein tiefes A, das immer in einer Art leisem Stöhnen endete. Er sprach ein bisschen heiser und auch ein bisschen langsam, und er suchte immer nach einfachen Worten, weil er wusste, dass ich ihm sonst nicht folgen konnte. Ich trank die Worte von seinen Lippen, sie waren süß wie die Sangria, die uns die Bedienung zur Begrüßung auf den Tisch gestellt hatte.
»Den Marseiller Akzent erkennt man immer sofort, die Wörter am Satzende werden verlängert. Wenn ein Wort zum Beispiel auf f endet, wird daraus effe .«
»Ich kann noch nicht so gut Französich, dass ich den Unterschied hören würde.«
»Jetzt wo du’s weißt, wirst du’s auch hören, glaub mir.«
»Ich werde mal drauf achten.« Ich nahm noch einen Schluck Sangria und kaute auf einem kleinen Stückchen Apfel, das mir dabei in den Mund gerutscht war.
Das Schöne an dieser Situation war, dass ich Michel ungeniert anschauen konnte. Wenn man mit jemandem spricht, ist es schließlich normal, dass man ihn auch ansieht. Außerdem waren wir nicht in Gesellschaft. Es gab niemanden, dem unser Interesse aneinander hätte auffallen können.
Ich konnte nichts an ihm entdecken, was mir nicht gefallen hätte. Er war schön, männlich und gut in Form, aber er hatte seine Muskeln nicht aus dem Fitnesscenter und versuchte sie auch nicht zu präsentieren. Eitelkeit schien ihm ganz im Gegenteil fremd zu sein. Von Leuten, die auf dem Bau arbeiteten, konnte man nicht erwarten, dass sie bei ihrer Schufterei die besten Kleider anzogen, aber oft trugen sie irgendwelche Klamotten, die sie früher mal besonders gemocht hatten, weshalb die Arbeitskleidung doch einiges über sie aussagte. So bestand etwa Erics Oberbekleidung bei der Arbeit aus zwei verwaschenen rosa Poloshirts von Lacoste und einer Gaastra-Hose mit kaputtem Reißverschluss. Die Sachen stammten noch aus der Zeit, als er sich ans Golfspielen gewagt hatte, um auch vermeintliche Freizeit mit seinen Kunden zu verbringen.
Michel trug ein fahles schwarzes Hemd und eine graue Trainingshose. Nicht gerade Haute Couture, und ich hatte ihn auch zu anderen Gelegenheiten bislang nicht in irgendwelcher Markenkleidung gesehen, die seinen Körper betont hätte. Dass sein verwaschenes Outfit gleichwohl diesen Effekt hatte, war unbeabsichtigt
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