Der Geliebte
oder auch nur meiner subjektiven Wahrnehmung geschuldet.
»Bei euch in der Gegend«, sagte er, »machen sie aus allem, was auf ai endet, ein langes e. Also wird aus je sais , ich weiß, je sée , nicht je sè . Bei Arnaud hört man das sehr gut, der kommt aus Bergerac.«
»Interessiert dich das, Sprache?«, fragte ich, weil es mich schon irgendwie wunderte, dass er sich anscheinend mit so etwas beschäftigte.
Entschuldigend zuckte er mit der Schulter. »Nicht besonders, aber es ist eben so.«
Unser Gespräch wurde von der Bedienung unterbrochen, die die Bestellung aufnehmen kam. Nach einem kurzen Blick auf die Speisekarte entschied sich Michel für einen Hamburger mit Pommes frites. Ich nahm einen Salat, weil ich fürchtete, dass mein Magen etwas Fettiges nicht vertragen würde.
»Du bist mit Bruno ganz gut befreundet, oder?«, fragte ich, als die Bedienung wieder gegangen war.
»Bruno ist für mich wie ein Bruder. Wir wohnen auch im selben Haus.«
»Aber nicht zusammen, oder?«
»Nein, er im Erdgeschoss und ich im ersten Stock. Es ist ein ehemaliges Krankenhaus, wo sie Zimmer vermieten. Seit es hier eine Uni gibt, haben sie viele alte Gebäude saniert und in Wohnraum umgewandelt.«
»Das heißt, es wohnen viele Studenten bei euch im Haus?«
Er lachte. »Studenten, Arbeitslose, Drogenabhängige, Illegale, alles dabei. Der Vorteil ist: Wenn du irgendwas brauchst, gibt es immer jemand, bei dem du anklopfen kannst.«
Unser Gespräch fühlte sich unnatürlich an. Hätte uns jemand nur im Vorübergehen gemustert, er hätte womöglich nichts bemerkt, aber es lag eine unbewusste Nervosität, eine Spannung in der Luft, als fänden wir das Besprochene im Grunde beide nicht interessant, fürchteten jedoch, dass Schweigen unsere eigentlichen Motive freilegen würde.
Mein Blick wanderte von seinem Gesicht zu seiner Brust, seinen Schultern, den Oberarmen und Händen - geschickt drehte er sich gerade eine Zigarette - und wieder zurück.
Ab und zu stießen unter dem Tisch unsere Knie aneinander, was bei Michel zu einem entschuldigenden Lächeln und bei mir zu nervösem Gekicher führte - worüber ich mich maßlos ärgerte, weil ich merkte, wie ich allmählich den Verstand verlor.
»Und, bist du zufrieden mit deiner Arbeit?«
Er zuckte mit der Schulter und hielt den Kopf schief, während er seine Zigarette anzündete. »Geht so. Ist ein Knochenjob, vor allem im Sommer, wenn es richtig heiß ist. Letztes Jahr hatten wir zwei Wochen über vierzig Grad, und wenn du dann draußen auf einem Gerüst stehst und an der Fassade herumhämmerst, ist das ganz schön hart. Aber was soll’s. Ich hab einen Job, genug zu essen, ein Dach über dem Kopf, ein paar gute Freunde. Es ist auch ein klasse Team, Peter und seine Frau sind schwer in Ordnung, also kann ich nicht klagen.«
Ich fragte mich, ob er diese Arbeit in zwanzig Jahren immer noch machen würde, wie Arnaud. Eigentlich kam Michel mir dafür zu intelligent vor. Aber ich hatte keine Ahnung vom französischen Schulsystem, also hätte ich ihn zwar fragen können, was für eine Schule er besucht hatte, aber mit der Antwort hätte ich doch nichts anfangen können.
Zwei Teller, ein Korb mit warmem, knusprigem Baguette und eine Flasche Wasser wurden auf den Tisch gestellt.
»Darf ich Ihnen noch zwei Sangrias bringen?«, fragte die Bedienung, als sie die leeren Gläser mitnahm. Ehe ich protestieren konnte, hatte Michel schon genickt, und die Frau war wieder verschwunden.
»Ich muss noch fahren«, sagte ich leise.
Er sah auf die Uhr. »Aber erst in anderthalb Stunden. Du isst ja jetzt noch was, und nachher ist das schon abgebaut.«
Ich stach mit der Gabel in den Salat und nahm mir vor, den Teller ganz leer zu essen. Ich hatte an dem Tag erst wenig gegessen, nur am Morgen schnell ein Fertig-Sandwich verschlungen, eigentlich eher ein Stück Gebäck mit Marmelade in der Mitte. Zwei Becher Kaffee, einen Orangensaft, das war alles. Von Alkohol wurde ich anschmiegsam und leicht enthemmt, was in Kombination mit Michel bedeutete, dass ich mich leichtfertig selbst in Gefahr brachte.
Normalerweise hätte der Salat mir fantastisch geschmeckt, aber so hatte ich nicht viel davon. Mein Magen verkrampfte sich derart, dass nichts mehr hineinging, und meine Geschmackspapillen waren taub. Ich kannte das schon. Abends, wenn die Jungs nach Hause gegangen waren, konnte ich wunderbar essen und es auch wirklich genießen. Aber wenn Michel in der Nähe war, ging es einfach nicht. Meine Waage steckte
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