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Der Geliebte

Titel: Der Geliebte Kostenlos Bücher Online Lesen
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noch in einem der Kartons im Container, aber bestimmt hatte ich schon ein paar Kilo abgenommen.
    Michel sagte nichts mehr. An Appetit mangelte es ihm nicht. Er teilte eines der Baguette-Stücke mit den Händen und reichte mir die Hälfte.
    Es war nur eine kleine Geste, aber darin kam die ganze Vertrautheit zum Ausdruck, die sich innerhalb der letzten halben Stunde zwischen uns entwickelt hatte. Die vielleicht schon immer zwischen uns gewesen war, schon von dem Augenblick an, als wir einander zum ersten Mal begegnet waren und es zwischen uns »gefunkt« hatte, auf einem tieferen, unbewussten Niveau.
    Ich verscheuchte den Gedanken. Die Sangria stieg mir zu Kopfe. Vielleicht sollte ich jetzt lieber Wasser trinken.
    Michel schenkte ein Glas Wasser ein und stellte es neben meinen Teller.
    Jetzt konnte er schon meine Gedanken lesen.
    Unsere Konversation war verstummt. Michels Teller war leer und meiner ebenso, bis auf ein paar Salatblätter und ein paar zu harte Oliven.
    Er sah mich an. »Kaffee?«
    »Gern.«
    Die Bedienung des Pirate, eine Frau um die fünfzig, war ein Naturtalent. Sie war sofort zur Stelle und hatte blitzschnell das Geschirr abgeräumt, ließ die Wassergläser aber stehen. Wahrscheinlich war sie daran gewöhnt, unter Zeitdruck zu arbeiten, im Sommer wimmelte es hier bestimmt von Touristen und Tagesausflüglern, sodass die Kunden schnell bedient werden mussten, damit die Tische für die nächsten Gäste frei wurden.
    Sie brachte zwei Tassen Espresso und die Rechnung. Ich legte meine Kreditkarte darauf. Michel zog sein Portemonnaie heraus (aus Canvas, mit Klettverschluss) und legte drei Euro dazu. Die Bedienung kam mit einem Stift und der Quittung wieder. Ich unterschrieb.
    Den winzigen Schluck Kaffee hatte ich rasch ausgetrunken, und die Süßigkeit, die dazu gereicht wurde, ließ ich liegen.
    Dann trank ich mein Wasser aus, um den starken Geschmack wegzuspülen, und Michel tat es mir gleich.
    Irgendwo tief in meinem Innern, in einem der verborgensten Winkel meines Geistes, auf einem Niveau, das man vielleicht als animalisch bezeichnen könnte, ahnte ich, warum. Und auf einem etwas höheren Niveau, wo der menschentypische Bereich anfängt, der im Augenblick anscheinend nicht zum Zuge kam, wusste ich, dass ich eine Entscheidung treffen musste. Und wie immer sie ausfiel, sie hätte Konsequenzen, die ich noch nicht absehen konnte.
    Michel erhob sich. Ich schob meinen Stuhl zurück, und als meine Beine mich wieder tragen mussten, merkte ich, dass mir leicht schwindelig war.
    Michel überquerte die Promenade und betrat den Strand. Ich folgte ihm.
    Arcachon liegt an einer großen Bucht, in der Ferne war ein dunkler Streifen Festland zu erkennen. Die Sonne schien noch immer, aber eine kräftige Brise sorgte für Abkühlung. Links von uns, wo der Atlantische Ozean in die Bucht hineinströmte, weit entfernt von der Küste, ballten sich dunkle Wolken zusammen.
    Kurz vor dem Saum des Wassers hielt ich inne, um mir Schuhe und Socken auszuziehen. Der weiße Sand scheuerte an der Haut. Ich stopfte die Socken in die Schuhe und nahm diese an den Schnürsenkeln in eine Hand. Michel tat es mir gleich.
    Wir ließen das Meer links liegen und schlenderten weiter, nah am Wasser, wobei wir Abdrücke im nassen Sand hinterließen, kühl und knirschend unter den nackten Füßen. Ich verspürte immer noch einen leichten Schwindel.
    Ohne ein Wort zu wechseln und ohne jede Eile gingen wir weiter, auf eine Mole zu. Die führte, gestützt von großen, weißen Pfeilern von der Promenade oberhalb des Strandes aus ins Meer. An ihrem Ende waren Boote vertäut, wahrscheinlich für Rundfahrten, mit viel Glas und großen Achterdecks voller Stühle. Der Wind fuhr mir ins Haar und zerzauste es. Ich drehte mich um, hielt mir mit der Hand und dem Unterarm die Strähnen aus dem Gesicht und betrachtete die Fußabdrücke, die wir im Sand hinterlassen hatten. Weiter als mein Blick zurückreichte, schlängelten sie sich den Strand entlang.
    Ich sah auf. Eine immense, bedrohliche Wolkenmasse, dunkel und dicht, schob sich langsam vom Meer aus auf die Küste zu und bildete einen unwirklichen Kontrast zu den lieblichen Pastelltönen der Promenade, der stattlichen weißen Balustrade, die den Strand von der Straße trennte, und den exotisch wirkenden Bäumen mit ihrem glitzernden Blätterwerk, das im auffrischenden Wind an den Zweigen raschelte. Die Atmosphäre hier war ganz anders als die, die ich heute Morgen hinter mir gelassen

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