Der Geliebte
Bordeaux«, echote ich.
»Dann bist du frühestens in einer Stunde wieder hier. Die Kinder abholen, das schaffst du wahrscheinlich nicht mehr, oder?«
Das war eine rhetorische Frage. Die Schule war um halb fünf aus. Ich konnte unmöglich innerhalb von einer Stunde dort sein.
»Kannst du dir von den Jungs einen Wagen leihen und sie holen?«, fragte ich.
Erics Verärgerung klang in seiner Stimme immer deutlicher durch. »Na gut. Wir können hier ohne die Verbindungsleitungen sowieso nicht weitermachen.« Ich konnte förmlich hören, wie er am anderen Ende nachdachte. Im Hintergrund Bohren und Hämmern. »Na ja, es gibt ja noch genug anderes zu tun, dann fangen wir eben morgen damit an. Fährst du vorsichtig?«
»Ja, keine Sorge.«
»Dann bis gleich.«
Eric legte auf.
Ich hielt das Handy umklammert, ließ die Hand in den Schoß sinken und starrte vor mich hin.
»War das Eric?«, fragte Michel.
Ich nickte.
Es schien Michel nicht im Geringsten zu stören.
Ich fing zu zittern an. Plötzlich war mir kalt. Erst jetzt kam mir die ganze Situation richtig zu Bewusstsein. Und nicht nur das, sondern die Panik überwältigte mich jetzt mit aller Heftigkeit. Der dicke Stoff meiner Jacke hatte sich mit Regenwasser vollgesogen. Jacke, Rock, T-Shirt, Socken, alles war durchweicht. Ich wollte nur noch so schnell wie möglich trocken werden, alle Spuren tilgen. Alle Spuren dessen, was ich getan, was ich zugelassen hatte. Es kam mir vor, als könnte ich Eric nicht unter die Augen treten, auch Isabelle nicht und Bastian nicht, einfach niemandem, solange meine Kleidung auch nur ein bisschen nass wäre.
»Wir müssen unsere Kleider trocknen«, sagte ich. »So können wir nicht zurück.«
»Warum nicht?«
»Warum nicht? Wie willst du das hier erklären?« Demonstrativ hob ich den Arm. Der Stoff klebte an meiner Haut. »Wir sind völlig durchnässt. So nass wird man doch nicht, wenn man nur schnell von einem Restaurant zum Auto rennt.«
Das kann nur bei einem intimen Techtelmechtel auf einem verlassenen Strand passieren, während es gießt wie bei der Sintflut, und auch dann nur, wenn man so glückstrunken ist, dass man den Regen gar nicht mitbekommt - einzig und allein davon kann man derart durchnässt werden. Eric wird es sehen, alle werden es sehen, sie werden dich ansehen, deine Kleidung, dein nasses Haar, sie werden die salzige Meeresluft riechen, an dir, an Michel, und sie werden es wissen. Die Bilder, die sich in deinem Kopf festgesetzt haben, werden wie ein Film ablaufen, hell und deutlich sichtbar für jeden, der dich anschaut.
Er zuckte mit der Schulter. Eine Geste, die gut zu ihm passte: Alle anderen zuckten mit beiden Schultern gleichzeitig, er nur mit einer.
»Bis wir zu Hause sind, sind wir wieder trocken.«
»Nein«, sagte ich in scharfem Ton, »davon würde ich nicht ausgehen. Was, wenn nicht? Was dann?«
Während er sich seine Zigarette ansteckte, hörte ich ihn murmeln: »Wir können rasch bei Libourne vorbeifahren. Da wohnt eine Bekannte von mir, die einen Trockner hat.«
Die Vorstellung, bis auf die Knochen durchnässt zu einer Bekannten von Michel mit einem Wäschetrockner zu fahren, mich bei jemandem zu entschuldigen, den ich überhaupt nicht kannte, mich in einer fremden Wohnung auszuziehen und abwarten zu müssen, bis die Frau meine Kleidung in ihrem Wäschetrockner getrocknet hatte, kam mir surreal vor.
Die vergangenen Stunden kamen mir überhaupt sehr surreal vor.
Ich strich mein nasses Haar zurück. »Libourne, in Ordnung, gut«, hörte ich mich selbst sagen. »Libourne, gut.«
Michels Bekannte hieß Jeanette. Sie war in meinem Alter oder vielleicht ein wenig älter. Ein offenes, freundliches Gesicht mit vollen, dunkelbraunen Locken, die sie mit einem breiten Haarband bändigte. Sie hatte schöne, weibliche Rundungen und wiegte sich beim Gehen in den Hüften. Sie erinnerte mich an eine Zigeunerin. Zumindest war sie Kettenraucherin, und vielleicht trank sie auch. Unter dem Wohnzimmertisch lagen drei leere Weinflaschen. Ihr Haus schloss direkt an den schmalen Bürgersteig an. Jeder vorbeifahrende Lieferwagen brachte die Tassen auf dem Tisch zum Tanzen.
Jeanette hatte bestimmt ein schweres Leben.
Sie tat, als wäre es die normalste Sache der Welt, dass Michel klatschnass mit einer fremden Frau bei ihr vor der Tür stand und ihren Wäschetrockner benutzen wollte.
Ich kam mir unglaublich bloßgestellt vor, wie ich da in einem viel zu großen Morgenrock und zwei rosafarbenen Slippern an den
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