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Der Geliebte

Titel: Der Geliebte Kostenlos Bücher Online Lesen
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etwas zusteckte.
    Michel saß mir genau gegenüber. Er brach sich ein Stück Baguette ab und strich damit durch die Sauce, die auf seinem Teller übrig geblieben war. Ab und zu, wenn die anderen ins Gespräch vertieft waren und niemand auf uns achtete, warf er mir einen zweideutigen Blick zu. Ich nehme an, dass ich diese Blicke erwiderte. Seit unserer Eskapade in Arcachon hatte die Spannung zwischen uns keineswegs nachgelassen, sondern sich eher noch gesteigert, weil wir keine Gelegenheit zur Aussprache mehr gehabt hatten. Morgens stieg er aus Brunos Wagen, einem alten, verbeulten Peugeot (oder, wenn der es mal wieder nicht tat, aus einem von Peters weißen Bussen) und machte sich an die Arbeit. Abends um acht stieg er wieder ein und war verschwunden.
    Ich versuchte mir einzureden, dass ja alles noch mal gut gegangen war. Zwar war ich an jenem Tag an der Atlantikküste völlig unbesonnen in einen Schnellzug gestiegen, der auf direktem Weg in die Hölle führte, einmal Fegefeuer bitte, aber gerade noch rechtzeitig eine Haltestelle vorher abgesprungen. Mit gerade so viel halbwegs gesundem Menschenverstand, wie meine grauen Zellen aufbringen konnten, ermahnte ich mich selbst, nicht auf ihn zu achten, aber allein auf seine Nähe reagierte mein verräterischer Körper so heftig, dass ich unmöglich darüber hinweggehen konnte.
    Dazu kam noch etwas anderes.
    Heute Morgen hatten die Jungs mit Begrüßungsküssen angefangen.
    Kein Handschlag mehr, schließlich waren sie jetzt täglich hier. Die Hand gab man Fremden oder Nachbarn, Leuten, denen man zwar regelmäßig begegnete, die man aber nur oberflächlich kannte. Ich hingegen kochte Tag für Tag das Essen für die Truppe, und Eric arbeitete, so gut oder schlecht er es eben vermochte, bei ihnen mit. Er hörte sich an, was sie zu erzählen hatten, und berichtete seinerseits aus unserem Leben, erzählte von unserer Vergangenheit in den Niederlanden.
    Wir waren presque famille , hatte Peter gesagt. Fast Familie.
    Also gab es ab sofort Begrüßungsküsse.
    Dadurch hatten das tägliche bonjour und au revoir eine ganz andere Bedeutung bekommen. Alle, so fürchtete ich, würden sehen, dass Michel und ich uns schon einmal geküsst hatten oder dass ich ihn mit zu viel Begeisterung küsste. Oder dass ich extra viel Distanz zu ihm hielt, um keinerlei Verdacht aufkommen zu lassen, obwohl doch bekannt war, dass man heimlich Verliebte gerade daran erkannte. Kurz, das ganze Geküsse war eine regelrechte Katastrophe.
    Drinnen klingelte das Telefon.
    »Lass es ruhig klingeln«, entgegnete Eric. »Wir sind gerade beim Essen. Wenn es wichtig ist, probieren sie’s später noch mal.«
    Das brachte ich nicht fertig. Die Kinder waren heute auf einem Schulausflug. Vielleicht war irgendetwas passiert.
    Ich stürzte nach drinnen.
    »Hier ist Simone.«
    »Hallo Simone, hier ist Pa. Kannst du gerade mal Eric rufen? Ich möchte ihn kurz sprechen.«
    Mein Schwiegervater war sonst nie so kurz angebunden. Er war eine der größten Quasselstrippen, die ich kannte, riss am laufenden Band Witze und kam mit allen prächtig aus. Früher, als er noch Neonröhren verkaufte, war das sein größtes Kapital gewesen. Erics Talent im Umgang mit Menschen kam wahrlich nicht von ungefähr.
    »Ja, sicher, einen Augenblick.« Ich ging wieder nach draußen, wo sich anscheinend gerade eine Unterhaltung über Hunde im Allgemeinen und die Abstammung Bleus im Besonderen entspann.
    »Eric, dein Vater ist am Telefon.«
    Er stand auf und ging hinein. Ich setzte mich wieder und stocherte mit der Gabel im Essen. Hoffentlich war es nichts Schlimmes. Meine Schwiegereltern waren beide über siebzig, aber noch sehr fit. Erics Mutter spielte in einer Theatergruppe, meist irgendwelche besserwisserischen Tussis, die sie mit viel Verve und Spaß verkörperte. Mein Schwiegervater war Kassenwart beim Sportverein und ging einmal die Woche zum Kartenspielen in die Dorfkneipe. Sie kochten oft zusammen, und ob früh, ob spät - stets war man bei ihnen willkommen und bekam einen Kaffee angeboten.
    Die beiden hatten in meinem Herzen einen Ehrenplatz. Sie waren das Musterbeispiel eines auf angenehme, harmonische Weise gemeinsam alternden Ehepaars. Eine Seltenheit.
    Die Jungs waren fertig mit Essen. Tabakpackungen und Zigaretten kamen zum Vorschein. Gewohnheitsmäßig fing ich an, den Tisch abzuräumen, und ging nach drinnen, um Kaffee aufzusetzen.
    Eric stand immer noch in der Küche. Er sah ernst und erschrocken aus.
    Ich stellte das Tablett mit

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