Der Geliebte
Gefühl von Verliebtheit ließ nun einmal nach, und wenn man Glück hatte, blieb so etwas wie eine verlässliche Basis übrig, ein Gefühl enger Verbundenheit, so wie bei Erics Eltern.
Ich sah Michel an. Vielleicht war dies ja gerade ein geeigneter Moment, war der heutige Abend genau der richtige Zeitpunkt, um klare Verhältnisse zu schaffen. Um wieder mit beiden Füßen auf den Boden zu kommen. Michel und alles, wofür er stand, hatte angefangen, meinen Alltag, mein Leben zu beherrschen. Und das war nicht gut. Es führte zu nichts und brachte mich bloß in Schwierigkeiten.
Heute Abend war ich allein. Brauchte nicht auf der Hut zu sein. Wir würden uns in aller Ruhe unterhalten können. Ich würde seine Hand halten können und es genau so rüberbringen, wie ich es mir vorstellte.
An Ort und Stelle, während Michel mich in Erwartung meiner Antwort unverwandt ansah, traf ich die Entscheidung. Ja, Michel durfte heute Abend vorbeikommen. Aber nicht für das, was er sich jetzt vorstellte. Ich würde ihm erzählen, wie viel ich für meine Familie empfand und dass ich all dies nicht aufs Spiel setzen wollte, indem ich etwas Unbesonnenes tat, etwas Flüchtiges ohne jede Zukunft. Die Ereignisse der letzten Tage hatten meinen Realitätssinn beträchtlich gestärkt.
»Ja«, sagte ich, »komm ruhig vorbei.«
Durch das dicke Drahtglasfenster, knapp unter der Decke und nicht viel größer als ein Schuhkarton, sickert das Orange der untergehenden Sonne in meine Zelle. Ich bin dankbar für das kleine Fenster. Es ist mein einziger Halt, während die Zeit vergeht, ich wegdöse und wieder aufwache oder die Gedanken durch meinen Kopf rasen.
Unglaublich, wie ich hier allen etwas vorlügen konnte, wie natürlich das schien, wie leicht es mir fiel. Mein Leben lang habe ich so etwas zutiefst gehasst: Mauscheleien, Winkelzüge und Lügen. Frauen, die ihre Männer mit deren bestem Freund betrügen; Männer, die behaupten, sie müssten Überstunden machen und in Wirklichkeit mit ihrer Sekretärin zugange sind - so was gilt nicht grundlos als Klischee, es kommt viel zu oft vor, es scheint die Welt geradezu im Innersten zusammenzuhalten. Wo wir früher gewohnt hatten, blieben solche Affären nie lange geheim. Ich ärgerte mich bei diesen Geschichten immer über den Mangel an Tiefe, über die Leichtigkeit, mit der sich Menschen, die eigentlich doch alles miteinander teilten, immer wieder gegenseitig übers Ohr hauten. Verheiratete Menschen, die sich hätten lieben sollen, die zusammen Kinder aufzogen, zusammen alt werden wollten.
So was kommt nicht einfach von selbst. Man sucht danach, bewusst, weil es in der Ehe an etwas fehlt, an etwas Essentiellem, an Wertschätzung, Bestätigung, weil man es zum Beispiel leid ist, ständig gesagt zu bekommen, dass man abnehmen soll, dass die Haare zu kurz oder zu lang sind, dass man Falten bekommt oder dass man nicht gut im Bett ist. Oder vielleicht sogar alles zusammen, vom lieben Mann immer subtil in kleine »Scherze« verpackt, vor allem auf Geburtstagen und Familienfesten, wenn er zu viel getrunken hat. Oder weil der eigene Mann, wenn der Alltag erst den Zauber gebrochen hat, eben nicht mehr der strahlende, virile Halbgott ist, den man früher in ihm sah, sondern auch nur ein normaler Mensch, der dann, wenn man ihn braucht, auf dem Sofa sitzt und durch die Fernsehprogramme zappt, der schlecht gelaunt und unfair sein kann, so menschlich und stinknormal, dass man sich für den Rest seines Lebens nach diesem intensiven, übermächtigen, glückseligen, aufputschenden, berauschenden Gefühl der Verliebtheit zurücksehnt.
So in der Art habe ich immer darüber gedacht.
Bis Michel kam.
16
»Kommst du denn so weit zurecht?«
»Alles bestens. Bastian und Isabelle schlafen jetzt bei Erica und Gerard in St. Hilaire.«
»Und du nicht?«
»Geht nicht, wegen Bleu. Hunde sind auf dem Campingplatz nicht erlaubt. Aber ehrlich gesagt, macht es mir nicht so viel aus, Eric. Es tut sogar ganz gut, ein bisschen zur Ruhe zu kommen. Wie geht es denn deiner Mutter?«
»Besser. Es geht alles sehr langsam, aber die Ärzte sind ganz zuversichtlich, dass sie mit einem blauen Auge davonkommt. Und ich bin es eigentlich auch. Sie flucht ständig wie ein Hafenarbeiter, doch das scheint ein gutes Zeichen zu sein.« Er hustete. »Aber die Niederlande sind der reinste Hexenkessel, Simone, hier ist so viel los … Gestern habe ich schon wieder einen Strafzettel bekommen, weil die Parkuhr kaputt war. Und es gießt in
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